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Samstag, 14.10.95, 1. Tag

Es ist wieder einmal so weit! Umbrien - die 6. Fahrt seit 1990. Diesmal dabei: Marianne, Peter, sein Sohn Sebastian, Jan und Martin. Die erste Fahrt allerdings mit nur neun Tagen - Martin mußte am Freitagabend erst noch auf einer Hochzeit im Sauerländer Hof spielen. Die Vorbereitungen sind fast schon Routine - die Vorfreude - einschließlich Stunden zählen - wird dennoch voll ausgekostet.

Freienohl-gewohnter Ausgangspunkt

Pünktlich gegen 10.00 Uhr starten wir wie gewöhnlich vom Bahnhof Freienohl aus - allerdings auch hier eine Änderung: der Zug fährt nach Westen, da wir aus finanziellen Gründen nicht die ICE-Strecke über Kassel nach München, sondern die Rheinstrecke gewählt haben. Dies erweist sich sogar als besser, da wir am Rhein entlang viel mehr sehen können als auf der ICE-Trasse, die vorwiegend aus Lärmschutzwällen und Tunnels besteht.

Nach der Abfahrt widmen wir uns bis München unserer Reiseverpflegung; unterwegs in Köln werden noch schnell die Vorräte ergänzt. Jan und Martin testen noch kurz die Sperre an der Bahnhofstoilette in Köln und die Qualität des Kölsch. Leider erweisen sich die Verschlüsse der Faxe-Familiendosen als wenig tauglich, und es kommen zum ersten Mal die Taschenmesser zum Einsatz. Als es dunkel wird, setzt sich bei einigen die Müdigkeit durch und es wird bis München auf Vorrat geschlafen.

HbF München - nur etwa 2 Stunden Umsteigezeit - also lohnt ein großer Gang durch die Stadt nicht. Ein Münchener hat uns kurz vor der Einfahrt den Tip gegeben, es doch mal im Augustiner-Keller, ganz in der Nähe des Hauptbahnhofes, zu probieren. Also werden die Rucksäcke geschultert und los geht`s durch die Stadt. Es ist tatsächlich nicht weit und von der Atmosphäre durchaus mit dem Matthäser zu vergleichen. Eine stämmige Bedienung serviert uns Münchener Köstlichkeiten, die mit zwei Krügen ausgezeichnet munden. Dann strömt eine ganze Herde Japaner/Franzosen herein, und zwei zu bemitleidende Musiker in Lederhosen servieren ihnen (und leider auch uns) original bayrische Gemütlichkeit. Na, für uns wird es dann auch Zeit; vorher hat Martin zusätzlich noch einen leckeren Kloß von der Bedienung spendiert bekommen. Wir schlagen uns durch die dichten Büsche vor dem Keller zurück zum Bahnhof.

Hier steht auf dem gewohnten Gleis schon unser Liegewagenzug nach Arezzo bereit - wir machen es uns in unserem Abteil gemütlich und bleiben noch bis hinter Kufstein, wo Martin ein Versprechen einlösen muß, wach.


Sonntag, 15.10.95, 2. Tag

Arezzo am frühen Sonntagmorgen - noch nicht viel los. Wie immer ein kurzes Frühstück in der Bahnhofshalle; draußen zeigt das Thermometer schon einige südliche Grade an; wir bewundern die ersten Dreiräder. In Terontola wieder ein Aufenthalt - wir genießen einen Cappuccino und einen ersten vino bianco. Über uns an der Hauswand ein schönes Wandgemälde. Ein Italiener mit einer Art Trecking-Weste zieht seine Kreise um uns herum.

Dann fliegen draußen die vertrauten Ortschaften vorbei - schließlich Perugia mit seinen häßlichen Hochhäusern, dann Assisi. Auch dies ist neu: wir verlassen den Zug nicht, sondern fahren noch durch bis Foligno.

Und hier wird es zum ersten Mal schwierig: der Busbahnhof ist zwar schnell gefunden, die Tafeln geben uns aber keine Auskunft über Abfahrtszeiten nach Cofiorito. In der benachbarten Bar dann der Schock: es fahren am Sonntag gar keine Busse dorthin! Kurzer Kriegsrat, dann bitten wir die freundliche Signora hinter dem Tresen, uns ein Taxi zu bestellen - irgendwie müssen wir ja hier wegkommen. Und kurze Zeit später fährt draußen ein Kombi vor, in den wir uns fünf mit unserem Gepäck hineinquetschen. Wir fragen erst gar nicht, wieviel die Fahrt wohl kosten wird - nur der Blick schweift während der Fahrt ins Gebirge hoch immer wieder sorgenvoll zum Taxometer. Die vorbeiziehende Landschaft entschädigt aber für diese Sorge! Vorbei an einem in den Fels gehauenen Kloster geht es über Serpentinen immer höher hinauf, bis wir plötzlich die Hochebene von Colfiorito erreichen. Neben der Straße die ersten Verkaufsstände für rote Kartoffeln.

Gegenüber von "unserer" Kneipe, bei der im letzten Jahr der 2. Teil der Trecking-Tour von Colle aus endete, steigen wir aus dem Taxi - und siehe da, so teuer ist es gar nicht. Dafür ist es echt heiß! Ein erster Schluck Faßbier in der Bar von Renzo Cellini tut gut; wir sitzen draußen und beobachten das, was im Reiseführer als "Hauptstraße, auf der sich das "Leben" von Colfiorito abspielt" bezeichnet wird.


Nun, Sonntags scheint es noch weniger zu sein als an Werktagen. Da es gerade mal Mittag ist, lockt uns gegenüber die Trattoria zum Mittagessen - Marianne macht eine große Schüssel grünen Salat an (die letzten "echten" Vitamine für die nächste Zeit), dazu gibts Tagliatelli oder Pollo, ja nach Geschmack. Dazu ein Erinnerungsfoto von Sebastian un einem neckischen Zwerg neben unserem Tisch. Und ein großer Krug Rosé, den wir mit Wasser verdünnen.

Tja, und wer könnte uns jetzt noch aufhalten? Früher als eigentlich geplant starten wir nun zum Teil III des GEA-Wanderweges. Ziel: Castelluccio.

"Über den Piano di Colfiorito zog während des Zweiten Punischen Krieges das 40.000-Mann-Heer Hannibals samt Kriegselefanten. GEA-Wanderer streben ihrem längsten Marsch entgegen: zwei Tage ohne Bett, ohne "Lebensmittelnachschub", lediglich nach 7 Stunden eine Trattoria. Viehtränken sind die einzigen Wasserstellen. Schatten ist ein oftmals ersehnter Komfort. Nagelprobe für Zivilisationsverwöhnte! Abgesehen von der Mühsal wird die größtenteils menschenleere Strecke bis Castelluccio zum nachhaltigen Erlebnis. Starkes Empfinden und sinnliches Spüren von Stille"

Soweit Helmut Dumler, aus dessen Feder diese Beschreibung stammt („Wanderungen in Umbrien“, Helmut Dumler, Verlag Bruckmann, 1993, ISBN 3-7654-2611-3, Originalzitate hier kursiv geschrieben). Wir haben es vorher immer wieder durchgelesen, können es uns aber noch nicht so ganz vorstellen. Die Beschreibung wird dann in den nächsten Tagen auch durch die Wirklichkeit noch übertroffen! 16 Stunden reine Gehzeit hat Helmut dafür veranschlagt. Wir werden 4 Tage dafür brauchen - allerdings wissen wir schon von den letzten beiden Touren her, daß wir die doppelte Zeit mit unserem Gepäck einkalkulieren müssen.

An der Chiesa di Plestia Endlich eine rot-weiß-rote Markierung

Nach den ersten paar hundert Metern, vorbei am markanten, kreuzgezierten Monte Trella machen wir an der "Basilica di Plestia" auf 760 m Höhe eine erste Rast. Es ist noch heißer geworden, und wir ziehen unsere kurzen Sachen an. Mitte Oktober - wir frösteln beim Gedanken an das momentane Wetter zu Hause bei uns im Sauerland. Hier hat Hannibal 217 v. Chr. also die Stadt Plestia dem Erdboden gleichgemacht. welch ein Vergleich zur friedlichen Umgebung heute, an diesem warmen Sonntagnachmittag. Nach kurzer, wenn auch beschwerlicher Erkundung des Altarraumes der Chiesa (leider nur von außen möglich) geht es richtig los, d.h. ab jetzt ständig bergauf. Zum ersten Mal sehen wir rot/weiß/rot, unseren ständigen Begleitern für die nächsten Tage.

Eine (tote!) Schlange, silbrig-bunt gestreift, und eine rote Kartoffel, die sich bei näherer Untersuchung mit dem Taschenmesser als ziemlich gewöhnliche Kartoffel erweist, sind unsere ersten Wandererlebnisse. Dann der Aufstieg nach Dignano - immerhin schon auf 885 m - vorher aber noch schnell eine Rast an der unteren Weggabelung; ein letztes Bier, denn warum sollten wir dieses Gewicht mit hochschleppen - und die Hoffnung auf einen Bauern, dem wir signalisiert haben, daß wir auf seinem Treckeranhänger auf seiner Rückfahrt vom Feld gern mit nach Dignano hochfahren würden. Wir haben ihn wohl falsch verstanden, denn er kommt nicht zurück! Also hilft nichts - Rucksäcke hoch und los.

Dignano - ein kleines Dörfchen - aber mit einem Lebensmittelgeschäft, daß am Sonntag auf hat! Vorräte ergänzen - uns ist bewußt, daß es für lange Zeit das letzte Mal sein wird. Also gleich vor Ort die ausgeschwitzte Flüssigkeit ergänzt (Moretti nach langer Zeit wieder). Es ist schön, auf den kleinen Mäuerchen zu sitzen und das Leben zu genießen.


Leider ist Jan urplötzlich verloren gegangen. Na ja, weit wird er sich hier in Umbrien ja nicht entfernen können. Noch weniger Glück hat eine junge Katze. Beim Zuschlagen einer Autotür bleibt sie mit dem Schwanz in der Tür stecken und jault dementsprechend. Schließlich erscheint Jan und wir verlängern nochmals die Pause. Marianne und Sebastian ziehen schon mal los. Wir anderen können uns noch nicht von unserem letzten Moretti lösen.

Vorbei an Truthähnen und dem Brunnen Fonte dell`Aria geht es über den breiten Nordrücken des Monte il Castello immer höher. Kurz vor dem Gipfel schwenken wir rechts ab und erreichen bald eine Art Lichtung, die uns einen weiten Ausblick zurück über den Piano di Colfiorito und den Monte Pennino gewährt. Tief unter uns, ragt eine kleine "Kuppe" aus dem Piano di Colfiorito heraus - die Karte benennt ihn als Monte Grillo mit 854 m. Wir taufen ihn wegen seiner passenden Höhe in "Kahler Asten (841m)" um. Die um ihn herumragenden "echten" Gipfel machen uns klar, wie flach doch eigentlich unser Hochsauerland ist. Wir beschließen, hier die Nacht zu verbringen. Die Anstrengung des Rucksacktragens zeigt sich an den nassen Rücken, auf denen sich das Tragegestell abzeichnet. Allerdings bewährt sich in dieser Situation auch das Polartec-Material der Unterhemden: wir frieren nicht.

Das Wetter ist prächtig, und wir wollen ohne Zelt schlafen. Also haben wir vor Einbruch der Dunkelheit noch etwas Zeit. Marianne und Sebastian machen sich auf, um Brennholz zu suchen und geraten dabei bis auf die Spitze des Monte il Castello. Wir anderen breiten derweil die Bodenplanen aus und nutzen erstmalig unsere neuen Super-Alu-Magnesium-Leichtgewichts-Häringe (Stück 7.- DM!). dann fällt die Dämmerung! Unten in Dignano leuchten die Straßenlampen auf; am Himmel erscheinen die ersten Sterne. Wir erlauben uns den Luxus eines kleinen Lagerfeuers und kochen beim Feuerschein unsere erste warme Trecking-Mahlzeit: die neuen Spaghetterias (Typ Pomodore) Und siehe da, die deutsche Chemie schafft es, uns in fünf Minuten Kochzeit eine sättigende Mahlzeit zu bereiten. Danach wird es aber auch schon empfindlich kühl. Wir stellen auch fest, daß die erste Feuchtigkeit sich auf unseren Schlafsäcken breitmacht. Also schnell umgezogen und hinein in die warmen Schlafsäcke. Als Schlummertrunk gibt`s den Alten aus dem Aldi. Über uns ein fantastischer Sternenhimmel samt Milchstraße; dazwischen immer wieder Flugzeuge - vielleicht sind es auch Satelliten. Für Peter und Sebastian die erste Übernachtung unter freiem Himmel. Nachts wird es kalt - bei den Schlafsäcken aber kein Problem; dazu aber auch noch durch den Tau ziemlich feucht. Wir ziehen uns zum Schutz die Überdächer über die Fußteile.


Montag, 16.10.95, 3. Tag

Am nächsten Morgen werden wir von der strahlenden Morgensonne geweckt. Leider müssen Jan und Martin erst einmal wieder absteigen zum Brunnen, um Wasser für den Cappuccino zu holen. Sie verbinden das gleich mit einer ausgiebigen Haarwäsche. Zurück müssen sie feststellen, daß Sebastian oben eine andere Wasserstelle im Wald entdeckt hat. Egal, der heiße Cappuccino tut gut und wir genießen unser Dosenbrotfrühstück mit dem herrlichen Ausblick. Inzwischen ist es schon wieder so warm, daß wir kurze Hosen und T-Shirts anziehen können; unsere Isomatten und Schlafsäcke lassen wir in der Sonne trocknen.

"Etwa eine ½ Stunde nach Dignano senkt sich der Weg 5 Minuten lang ziemlich steil in das Tälchen. Ab dem betonierten Wasserbunker wieder bergan. Einige Minuten später zweigt die Route links vom beiten Schotterweg ab, gut markiert auf einem breiten Pfadf. Nun neben dem Bächlein, das mehrmals überschritten wird, talein bis zur gemauerten Brunnenstube."

Aufstieg von Dignano Kurz vor dem Paß von Collatoni

Na ja, wir verlaufen uns erst einmal; bedingt durch einen wohl inzwischen neu gezogenen Maschendrahtzaun, der das Tal vor uns absperrt. Da die Hauptrichtung aber nicht zu verfehlen ist, quälen wir uns langsam die steile Bergflanke nach links hoch, bis wir wieder die Wegmarkierungen zufällig im Geröll und an kleinen Bäumen entdecken. Dies lehrt uns, künftig noch genauer auf die spärlichen E1-Markierungen zu achten. Je höher wir kommen, desto besser wird die Aussicht. Wir gestatten uns den Luxus, vom Weg abzuweichen und bis zu einer Stelle zu gehen, von der aus wir einen fantastischen überblick über die Strecke der letztjährigen Tour haben: links hinter dem Monte Pennino mit seinen charakteristischen Serpentinen können wir Bagnara erahnen; davor liegt Colle Croce und Annifo, wo wir im letzten Jahr unseren Regen satt abbekommen haben. Heute, ein Jahr später, schwärmen wir fast schon davon, wie wir am nächsten Morgen in der Morgensonne unsere nassen Klamotten auf den Hecken und Sträuchern getrocknet haben. Mit Fotos und einem Videoschwenk versuchen wir diese Strecke noch einmal einzufangen.

Inzwischen sind unsere Unterhemden auch wieder abgetrocknet, und wir wenden uns endgültig nach Süden, unserem Hauptziel zu, den Monti Sibillini. Wir folgen dem gut geschriebenen Reiseführer, kürzen über eine mäßig ansteigende Weide eine große Schleife des Schotterweges ab und folgen dann dieser Straße etwa eine halbe Stunde lang. Auf diesem Panoramaweg haben wir tolle Ausblicke nach rechts in die weiteren Täler. Als wir gemäß Führer am höchsten Punkt der Straße auf einen schwach ausgeprägten Pfad über die Bergwiesen einbiegen, machen wir an einer ausgetrockneten Wasserstelle eine kurze Pause und teilen uns unsere letzte Bierflasche.

Der Weg läßt sich nun eigentlich nur noch ahnen - hier sind schon lange keine Wanderer mehr vorbeigekommen! Dafür treffen wir auf dem Kamm einen einsamen Hirten, der ständig den Grat hin- und herläuft, wahrscheinlich auf der Suche nach Pilzen.

"Schwach links halten in wenigen Minuten zum nächsten Farbzeichen an Steinen. Rechts entsprechend den Markierungen auf einer felsbesetzten, böschungsähnlichen Geländewelle etwa 200 Meter. dann halb links und am Zaun entlang absteigen in die Mulde des Fosso Cipoletta. Er mündet in die Schotterstraße(1100m) Collatoni-Forcella."

Soweit die Theorie - aber erst einmal das "nächste Farbzeichen an Steinen" finden! Und was ist schon eine "felsbesetzte Bodenwelle", wenn alles wellig aussieht und überall jede Menge Steine herumliegen? Wir laufen weit auseinandergezogen und finden so, eigentlich mehr per Zufall, immer wieder mal eine weitere Markierung. Und dann haben wir endlich den Zaun, der uns eigentlich sicher weiterleiten müßte. Peter zaubert aus seinem Rucksack eine Krakauer hervor, die uns ein wenig den Mittagshunger vergessen läßt. Aber da kommt ja noch Collatoni, die nächste Ortschaft! Und hier verlassen wir uns ganz auf die Angaben unseres 2.Reiseführers, dem Heftchen zur offiziellen Wanderkarte zum E1. Anders als Helmut es beschreibt, werden wir nach Collatoni absteigen, denn hier gibt es einen "Generi alimentari", also eine Gemischtwarenhandlung! Wie geschaffen zum Getränkenachkauf; dazu Brot, Käse, Wein. Uns läuft schon jetzt das Wasser im Munde zusammen.

Der Hunger beflügelt unsere Schritte, und bald haben wir den Paß und das Schottersträßchen erreicht. Collatoni soll links, in 1,5 Km Entfernung liegen; allerdings ziemlich tief unten im Tal. Wir verstecken unsere Rucksäcke im Unterholz nahe der Straße und machen uns leichten Schrittes auf ins Tal. Und siehe da, nach einigen Kurven liegt unter uns das ersehnte Dörfchen. Schneller - der Hunger treibt!

Dann sind wir im Dorf. Nichts - keine Kneipe, kein Gemischtwarenladen, gar nichts! Dorfbewohner klären uns auf, daß das Geschäft schon seit Jahren geschlossen sei - 4 Kilometer weiter - aber ganz unten im Tal! - gäbe es etwas im nächsten Dorf.

Uns ist der Appetit und der Durst vergangen - wir beschließen, uns oben selbst eine Linsensuppe zu kochen. Aber womit das Wasser transportieren? Unsere Feldflaschen und Wassersäcke haben wir natürlich im Rucksack zurückgelassen. Eine Frau schenkt uns einige leere Weinflaschen, die wir am einzigen Dorfbrunnen füllen. Langsamer als beim Hinweg geht es wieder bergauf.

Oben angekommen wird uns klar, daß dies bei unserem Glück vielleicht die einzige Wasserstelle für die nächste Zeit sein könnte. Das Risiko, ohne Trinkwasser in dieser Einöde zu stehen, wollen wir lieber nicht eingehen - also fängt Marianne an zu kochen, und Jan und Martin machen sich ein weiteres Mal auf nach Collatoni, bepackt mit allen Trinkflaschen und den beiden Wassersäcken.

Weil inzwischen die Zeit etwas drängt - die Schatten werden schon deutlich länger - wird die Linsensuppe schnell hinuntergewürgt. Dementsprechend schwer liegt sie dann auch beim Weiterweg, natürlich wieder bergauf, im Magen. Martin macht des Öfteren Pausen und scheint seine Grenzen zu spüren. Die Wandergruppe ist weit auseinandergezogen; jeder versucht, irgendwo am steilen Hang die Farbmarkierungen zu finden. Von oben dann ein steiler Abhang tief hinunter. Von hier aus sieht man, daß selbst Collatoni noch auf einem schmalen Bergrücken liegt. Gut, daß wir uns nicht weiter abwärts ins Tal begeben haben.

Irgendwie verändert sich unmerklich das Wetter. Es wird kälter und diesiger. Von Collatoni her ziehen Nebelschwaden heran. Und dann erwischt es uns richtig! Während wir noch schöne Blumen am Wegrand fotografieren, ziehen immer dichtere Nebel heran, plötzlich auch von weiter oben. Und wo ist dieses verdammte Autowrack, daß laut Reiseführer den Weiterweg markieren soll?? Nichts mehr von Markierungen weit und breit zu sehen. Wir wissen zwar, daß wir noch an der richtigen Stelle sind - wie aber, bzw. wo soll es weitergehen? dann stehen wir richtig im Nebel - sehen uns selbst kaum noch und hören plötzlich von vorn das Geläute von Kuhglocken.

Und dann sind wir schon mitten in einer geisterhaft anmutenden Herde. Jeder versucht, in einer anderen Richtung einen Weg zu finden - aber nur nicht zu weit von der Gruppe entfernen! Wir beschließen schließlich, für heute Schluß zu machen und einen etwas flacheren Lagerplatz zu finden.

Und plötzlich ruft Jan: " Kommt her, ich steh in der Sonne" Tatsächlich, vier, fünf Schritte den Hang weiter hinauf, sind wir urplötzlich aus dem Nebel völlig heraus und stehen in strahlendem Abendsonnenschein!! Jetzt wissen wir, was es im Führer heißen soll: "Vorsicht - Orientierungsschwierigkeiten bei Nebel"! Der Blick zurück auf die den Berg heranfegenden Nebelschwaden, darüber die rote Abendsonne und die Kühe als Schattenriß auf dem gegenüberliegenden Kamm, lassen die Strapazen der letzten Stunden schnell vergessen. Wir machen Schluß für heute und suchen uns zwei schöne Plätzchen für die Zelte - nur die vielen Disteln stören ein wenig.


Der Schock in Collatoni: es gibt leider kein Lebensmittelgeschäft mehr Abendstimmung am Poggio Martello

Da wir schon warm gegessen haben, summt bald der Kaffeekessel auf unserem Gasbrenner. Verfeinert wird dieser Cappuccino erstmals mit Rum - ein wahrlich edles Getränk! Dazu der Ausblick über die inzwischen geschlossene Wolkendecke unter uns, die gnädigerweise Collatoni unseren Blicken entzieht. Wir hätten uns besser an Helmuts Beschreibung gehalten und Collatoni nicht mit eingeplant. Na ja, hinterher ist man halt immer klüger. Als die Nacht die kurze Dämmerung ablöst, verkriechen wir uns unter dem klaren, kalten Sternenhimmel bald in unseren warmen Schlafsäcken; diesmal zum ersten Mal auf der Tour in unseren Zelten. Marianne und Martin haben das kleine Sierra Leone dabei und haben doch arge Schwierigkeiten, darin auch noch ihre Rucksäcke zu verstauen; Jan, Peter und Sebastian haben das Dovrefjell gewählt.


Dienstag, 17.10.95, 4. Tag

Der Tag beginnt früh. Draußen bestes Wetter - der Nebel im Tal ist spurlos verschwunden. Nach dem ersten heißen Kaffee erkunden wir ein wenig die Umgebung - und siehe da - im Taleinschnitt direkt zu unseren Füßen finden wir das gesuchte Autowrack. Also müssen wir doch noch auf dem richtigen Weg sein! Und dann finden wir noch eine richtige Wasserstelle! Also schnell die Waschsachen geholt und auf ins Vergnügen. Die eisige Temperatur des Wassers bremst dieses Vergnügen zwar etwas; dennoch tut es gut, sich mal wieder richtig waschen zu können.

Nach dem Frühstück werden dann die Zelte wieder verstaut und wir starten erneut mit kurzen Hosen und T-Shirts. Heute ist der Weiterweg mühelos zu finden. Leider geht es direkt steil bergauf. Wir folgen den detaillierten Beschreibungen des Reiseführers und sind nach etwa einer halben Stunde auf dem Poggio Martello, dem mit 1499 m höchstem Punkt der Gegend angekommen. Welch eine Aussicht ringsherum! Nach Norden das gewohnte Bild des Pennino, aber nach Süden hin erstmals (glauben wir zumindest) die Kette der Monti Sibillini mit dem krönenden Abschluß des Monte Vettore. Leichter Dunst liegt noch in den Tälern und es verspricht ein schöner Tag zu werden. Der erste Schluck Wein des Tages kreist; leider gleichzeitig damit auch das Ende unserer Vorräte.

"Südöstlich absteigen, entlang dem Laubwaldsaum in 5 Minuten zum quergestellten Rücken, von dem man erstmals den weltentrückten Weiler Riofreddo sieht."

Blick hinunter auf Riofreddo Rast am Brunnen des Val di Tazza

Wieder eine grandiose Aussicht vom Rand des "quergestellten Rückens" tief hinab in die Täler. Wir versuchen, die Sträßchen und winzigen Dörfer an Hand der Karte zu identifizieren. Dann folgen wir dem Pfad links hinab durch ein Wäldchen, immer tiefer hinab.

"Links in den Laubwaldschatten, wo die roten Kleckse sicher leiten. In die Forca(1190m), eine Scharte, benötigt man eine halbe Stunde. Die Markierungen münden unterhalb der Scharte in einen breiten Weg. 100 Meter nach rechts. Gleich nach dem Viehzaun halb links zu einem hölzernen Zaunüberstieg"

Zuerst geht`s ja auch ganz einfach - die Farbzeichen, diesmal an den Baumstämmchen, sind wirklich leicht zu finden, und bald stehen wir unten auf einem breiten Weg. Da er nur rechts weiter abwärts in eine Richtung führt, kein Orientierungsproblem. 100 Meter, 200 Meter, 300 Meter - jetzt müßte aber mal endlich der Viehzaun kommen. Oder ist er inzwischen schon vorbei? Kann eigentlich nicht sein - war alles nur steiler Abhang mit viel Gestrüpp. Dann stehen wir im Freien - ist das die Forca? Wieder mal heißt es ausschwärmen, Farbzeichen suchen, hoffen. Diesmal leider vergeblich. Schließlich orientieren wir uns an der Hauptwanderrichtung nach Südosten. Und dann endlich ein Viehzaun - und, kaum zu fassen, ein hölzerner Überstieg. Das muß es sein!!

"Wir sind am Rande des Naturale Montagna di Torricchio: Naturschutzgebiet des World Wildlife Funds. Durch einen Zaun schlüpfen, rechts, aber nur drei, vier Minuten. Wieder einmal ist Konzentration notwendig: halb links getreu der Markierung in der Wiese, weglos auf dem Pian della Cuna. Nicht direkt Richtung Haus, sondern links davon zu einem gezäunten Pferch. Dort links in die Mulde des obersten Val di Tazza, dem Zentrum der Schutzzone, die von der Universität Camerino betreut wird und zu einer Viehtränke."

Und ob wir uns diesmal konzentrieren! Jedes winzige rot-weiß-rote Zeichen auf einem genauso winzigen Stein wird erfreut von allen geprüft und begutachtet. Und als wir endlich das wohl einzige Haus in der Gegend und den Pferch sehen, ist alles zunächst einmal klar. Das letzte Stück bis ins Val di Tazza, das wir zu Ehren unserer Wolfstatzen auf den Klamotten natürlich sofort in "Tatzental" umtaufen, gelingt problemlos. Mitten zwischen den weißen Rindern, die sich sicher über uns wundern, eine kurze Verschnaufpause am Brunnentrog, denn leider steigt der Weiterweg schon wieder unerbittlich an. Inzwischen ist die Mittagszeit überschritten und die beste Tageshitze erreicht. Plötzlich eine merkwürdige Erscheinung: bei jedem Schritt springen hunderte von Heuschrecken vor unseren Füßen auf und wir haben Mühe, sie oben aus unseren Schuhen herauszuhalten. Wir freuen uns auf die Begegnung, die wir wohl laut Reiseführer in einigen Minuten haben werden:

"Links, in einer Viertelstunde ansteigen in einen Sattel(1243m). Hinunter zum gemauerten Haus Verlicaja(1170). Hundegebell. Der Schafhirte hat 2 Jahre in der Schweiz gearbeitet, aber dann zog ihn die Sehnsucht wieder heim, weil es nirgends so schön ist, versichert er bei einem Glas Rotwein."

Das Hundegebell ist tatsächlich schon von weitem zu hören; leider ist aber kein Schafhirte in der Nähe des Hauses zu sehen. Also auch kein Glas Rotwein! Wir folgen dem nun leicht abwärts führenden Pfad in Richtung des Fosso di Torsa, die der landschaftliche Höhepunkt des Tages sein soll. Und dann kommt uns tatsächlich auch noch der Schafhirte entgegen. Wir versuchen mit ihm ins Gespräch zu kommen; leider scheitert dies an den mangelnden Sprachkenntnissen. Er bleibt noch ein wenig bei uns stehen und begutachtet unsere Ausrüstung. Marianne und Peter sind noch ein wenig zurück und laben sich an den vielen Beeren am Wegesrand. Zwischendurch einmal etwas Zeit, die schweren Wanderschuhe auszuziehen und die Socken etwas abkühlen zu lassen.

Gedankenaustausch mit einem umbrischen Hirten Vor dem Steilabstieg nach Croce

Dann der Abstieg steil abwärts ins winzige Dörfchen Croce, nur noch auf 768 m. Eine Tortur für die Fußgelenke - ständig über loses Geröll mit der Angst, mit dem schweren Gewicht auszurutschen. Es geht erstmals auf der ganzen Tour in die Knie- und Fußgelenke.

In Croce füllen wir die Wasserflaschen am Brunnen auf und erfreuen uns an den Weintrauben. Nur ganz wenige Menschen sind zu sehen, das Dorf scheint wie ausgestorben. Wir haben die Wahl, dem Wanderweg zu folgen, oder aber die - vielleicht - kürzere Straße hinab ins Tal zu wählen. Wir bleiben, nicht zuletzt in Erwartung des Fosso di Torsa, auf dem Wanderweg. Es kommt dann auch nicht mehr so schlimm, wie im Reiseführer angekündigt: kein Weitsprung über den Bach.

Die Schlucht ist wirklich sehenswert. Als wir endlich auf dem Boden angekommen sind, ragen die ausgewaschenen Felsen links und rechts viele Meter senkrecht hinauf und tauchen das Tal schon ein wenig in den Abendschatten. Wir folgen den Wegzeichen, teilweise an Hochspannungsmasten angebracht, durch ein weitgehend ausgetrocknetes Flußbett. Bei Hochwasser muß es hier ganz schön abgehen. Dann links am Hang entlang in Einerreihe durch mannshohes Gestrüpp, an dem Martin sich sein neues Coolmax-Shirt aufreißt. Eine Frage bleibt hier offen: geeignet für Langlauf, Pferd und Bike heißt es im offiziellen GEA-Führer. Interessant! Den Biker möchten wir gerne mal sehen, der diesen verwachsenen Pfad nehmen würde; vor allem, als es dann noch steil hinunter geht zur "Hauptstraße" und zur langersehnten "Trattoria des Pescatore" in Mulini di Visso, nur noch 490 m hoch gelegen.

Laut Helmut die einzige Trattoria auf dem Weg nach Castelluccio. Für uns Grund genug, uns ausgiebig auf diesen "kulinarischen Stützpunkt" zu freuen. Während Peter schon von delikaten Fischgerichten schwärmt, läuft uns anderen bei dem Gedanken an die ganz normalen italienischen Köstlichkeiten das Wasser im Munde zusammen. Nach der Pleite von Collatoni ja auch kein Wunder. Und Mittwoch ist es zum Glück auch noch nicht, denn da ist die Trattoria anscheinend geschlossen.

Nein, sie hat erwartungsgemäß geöffnet, und wir stürmen mehr oder weniger schnell hinein. Dann der erneute Schock: die Küche ist bereits geschlossen; lediglich trockene Weißbrote mit Schinken sind zu haben. Und da morgen eine große Feier stattfinden soll, will/kann der Wirt uns auch nichts an Brot oder dergleichen verkaufen. Wir fragen vorsichtshalber nach dem Lebensmittelgeschäft oben in Saccovescio, auch nur noch 2,5 Km entfernt und eigentlich unser heutiger Zielort. Doppeltes Pech: auch dieses Geschäft existiert schon seit Jahren nicht mehr!! Langsam macht sich so etwas wie eine Art gleichgültige Verzweiflung breit. Zum Glück haben wir noch "Trockenfutter" im Rucksack, aber so hatten wir uns das eigentlich nicht vorgestellt. Wenigstens sind die Bierflaschen kalt und groß; dazu tauchen wir das Weißbrot in Salatöl, das auf dem Tisch steht, um wenigstens eine Spur an Kalorien zu bekommen.

Auf unsere Frage nach etwas Rotwein bedauert der Wirt erneut; er hätte lediglich 5-Liter-Flaschen. Nun, dies ist für uns ja wohl das kleinste Problem. Wozu haben wir unsere Wasserflaschen! Der Wirt staunt nicht schlecht, als ihm Jan nach 5 Minuten die leere Kruke zurückbringt, die wir draußen fachmännisch ohne einen Tropfen Verlust umgefüllt haben. Was nicht mehr in die Flaschen paßte, wird an Ort und Stelle verzehrt.

Draußen bricht bereits, zunächst kaum merklich, die Dämmerung herein. Wir müssen uns sputen, um das Dorf noch zu erreichen und einen günstigen Platz für die Zelte zu finden. Auf dem Spielplatz bei der Chiesa della neve, also neben der Kirche, soll man zelten dürfen. Wir haben allerdings nicht mehr mit dem Höhenunterschied von 490 m auf 724 m gerechnet; der Weg zieht sich steil hinauf, und wir erreichen praktisch beim letzten Tageslicht Saccovescio. Und nochmals höher hinauf ins Oberdorf zur Kirche wollen wir nicht mehr! Stattdessen suchen wir neben einem Stall einen Platz auf einer kleinen Wiese. Ein Bauer, der sich noch beim Stall zu schaffen macht, hat nichts dagegen.

Nun, wir haben ausreichend Wein für eine improvisierte Fete; Wasser zum Kochen auch und genug Tüten Spaghetteria, diesmal Typ "Parmesano". Na, und so schlecht schmeckt das eigentlich garnicht, zumindest nicht, wenn man, wie wir, nach einem solchen Wandertag einen Bärenhunger hat. Wir sitzen alle im Dovrefjell; Martin kocht im Vorbau und bringt den Topf durch schwungvolles Rühren ordentlich in Bewegung; dazu kreisen die Becher und es wird beim Schein der Kerzenlampe richtig warm und gemütlich.

Draußen wieder ein toller Sternenhimmel, bereits viel Tau und eine arge Kühle, die uns nach dem Essen doch recht gerne im warmen Schlafsack verschwinden läßt. Wieder ein Wandertag voller Erlebnisse!!


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