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Dienstag, 6.10.98, 5.Tag

Beginn der Tour! Darauf haben wir uns ein halbes Jahr vorbereitet! Noch ist es trocken und wir können die Zelte ohne Streß abbauen. Der Himmel spricht aber eine deutliche Sprache: Regen ist von Westen zu erwarten. Das gibt einen tollen Tour-Start!!

Unsere Entscheidung, erst abzubauen und danach zu frühstücken, erweist sich in kürzester Zeit als sehr sinnvoll! Mitten im Frühstück müssen wir hastig mit Sack und Pack hinunter in den Tagesraum bei Franco umziehen: es beginnt in Strömen zu regnen. Und dort warten wir nun erst einmal ab - noch haben wir etwas zeitlichen Spielraum! Schließlich setzen wir als letztes "Startfenster" für den Aufbruch 11 Uhr fest.

Zwischenzeitlich erscheinen auch zwei Beamte der Corpo Forestale vom Commando di Nocera Umbra (Mario Cucchiarini und Marco Fiorucci, wie wir leider erst später erfahren werden). Die beiden sollen sozusagen als Schutzengel für uns fungieren; als kostenlose Unterstützung unseres Marsches durch die italienische Regionalregierung in Perugia. Dieser gesamte Zusammenhang wird uns aber erst im Laufe der nächsten Tage deutlich. Im Moment haben wir andere Sorgen - immer wieder schweifen unsere Blicke hinüber zum Monte Subasio: von dort kommt im Moment das Wetter. Und dort hängen immer noch dichte Wolken! Jetzt zieht auch noch ein Gewitter über uns hinweg.

Elf Uhr wird erreicht - und überschritten. Kurz vor halb zwölf ziehen wir aber dann doch seufzend Regenhosen und Regenjacken über; die Rucksäcke sind sowieso schon durch die Regenhüllen geschützt. Es hilft nichts - wir müssen jetzt los, sonst haben wir keine Chance mehr, unser heutiges Tagesziel, den Monte Alago, noch bei Tageslicht zu erreichen.

Auf diese Situation sind wir nun aber ausrüstungsmäßig vorbereitet. Jeder hat eine Regenhose und eine Regenjacke dabei, gut gefettete bzw. imprägnierte Schuhe und einen schützenden Überzug über dem Rucksack. Gegen den von vorn heranpeitschenden Regen hilft der Schirm der Regenkappe. Trotzdem macht das Ganze natürlich so nicht unbedingt großen Spaß.

So hatten wir uns den Start wettermäßig nicht vorgestellt


Wir machen noch ein letztes Gruppenbild vor Francos Haus, verabschieden uns von Gabriella und Franco (und natürlich auch von seinem Hund Leopoldo, der uns inzwischen ans Herz gewachsen ist - sofern er sich unseren Lebensmitteln beim Kochen nicht all zu weit nähert).

Und - kaum zu glauben: als wir Francos Grundstück verlassen, hört es doch glatt auf zu regnen. Da aber die Zeichen am Himmel nach wie vor auf viel Feuchtigkeit von oben stehen, lassen wir das Regenzeug vorsichtshalber mal an - eine sehr weise Entscheidung, wie sich kurz darauf herausstellt.

Unser Weg führt uns nun zunächst ein Stück parallel am Berghang entlang. 1994 sind wir dann direkt in einem steilen Taleinschnitt aufgestiegen, hinauf zur E1-Strecke, die oberhalb von Colle etwa auf eintausend Höhenmetern verläuft. Wir wollen in diesem Jahr allerdings weiter am Hang entlang bis nach Costa, um von dort langsam aber beständig aufzusteigen. Bis zur Abzweigung nach Costa läuft es auf dem ersten Kilometer nun auch ganz gut: das Gewicht des Rucksacks drückt zwar mächtig auf den Schultern, dafür steigt die Strecke aber nicht besonders an. Eher machen uns da schon die vielen Pfützen zu schaffen, die wir immer wieder umgehen müssen. Doch dann, an der von Franco beschriebenen Abzweigung nach Costa, das erste Problem: es gibt zwei Wege, die vermutlich beide nach Costa führen. Wir entscheiden uns intuitiv für den richtigen, der allerdings auch sofort kräftig ansteigt!

Und wir beginnen nun unter dem Regenzeug auch sofort kräftig zu schwitzen! Diese ganzen "atmungsaktiven" Materialien unserer Ausrüstung erreichen beim anstrengenden Anstieg mit den 20 Kilogramm auf dem Rücken schnell ihre Grenze der Belastbarkeit: wenn zuviel Schwitzwasser anfällt, schaffen sie es auch nicht mehr, die gesamte Feuchtigkeit nach außen zu transportieren. Andererseits tragen wir alle Funktionsunterwäsche; damit bleiben wir am Körper zumindest trocken.

In Costa beginnt es dann wieder zu regnen und wir machen eine erste Rast. Einer alten Frau versuchen wir in unserem dürftigen italienisch unseren Weg zu erklären - wir merken aber bald, daß sie mit Namen wie Castelluccio oder Saccovescio nicht viel anzufangen weiß. Vermutlich ist sie in ihrem ganzen Leben noch nicht dort gewesen. Dafür versteht sie aber, daß wir den weiteren Weg hoch nach Alago wissen wollen - und den kann sie uns beschreiben: immer der kleinen Teerstraße folgen!

Unter einem Balkon dann ein erstes Trink-Päuschen. Dabei hält der Jeep der Corpo Forestale (CF) neben uns und man fragt nach, ob noch alles o.k. sei. Wir bejahen es, und die beiden Beamten vereinbaren mit uns, daß sie gegen 14 Uhr wieder nach uns sehen werden. Jetzt heißt es aber voran, damit wir in einer Stunde nicht immer noch hier herumhängen! Zuerst ist es noch leidlich trocken; pünktlich mit dem Beginn des "echten" Anstiegs beginnt es aber wieder in Strömen zu gießen.

Der Weg zieht sich! Außerdem ist es ziemlich schwierig, hier in den vielen Seitentälern, durch die uns unser Weg hindurchführt, die Orientierung zu behalten. Nach und nach zieht sich die Wandergruppe auseinander. Wir machen immer wieder kurz Rast, damit jeder problemlos die Steigung schafft. Nun ja, wir wußten ja schon Bescheid, daß gleich zu Beginn der Tour ein enormer Höhenunterschied zu bewältigen ist.

Daß diese "paar" Höhenmeter aber so anstrengend sein würden, hätten wir vorher nicht gedacht. Klar, der Anstieg zur Homert während des Trainings-Lagers war auch nicht ohne - aber dies ist nun doch noch was anderes!

Meter um Meter kämpfen wir uns voran und hoch; der Regen wird immer stärker und wir geraten in immer dichteren Nebel. Damit der Abstand zu den Letzten der Gruppe nicht zu groß wird, rasten wir in einem kleinen Waldstück, dessen überhängende Zweige einen notdürftigen Schutz versprechen. Hier wollen wir erst einmal Mittagspause machen und einen stärkenden Imbiß zu uns nehmen. Die Spitze der Gruppe ist nicht mehr sichtbar und kann somit darüber auch nicht informiert werden; sie macht aber ebenfalls etwa zweihundert Meter weiter Rast.

Nun taucht ein neues Problem auf: wohin mit den Rucksäcken? Der Boden ist natürlich klatschnaß; über den Weg fließt inzwischen ein munteres Bächlein. Legt man den Rucksack mit der Hülle nach oben hin, saugen sich die Riemen unten voll. Legt man ihn anders herum hin, bekommen die Trageriemen Wasser von oben herab ab. Also, naß wird es allemal. Wir können uns also - leicht frierend - dem Mittagsmahl widmen: trockenes Knäckebrot, dazu Käse und Salami am Stück. Und plötzlich erscheinen von oben her kommend wieder die CF und fragen (zum Glück auf italienisch!) ob wir wegen des Regens abbrechen wollen und ob sie uns nach Nocera Umbra bringen sollen! Was wäre das für eine Blamage! Wir lehnen also dankend ab und loben unsere gute Regenausrüstung. Von den beiden Beamten erfahren wir auch, daß der Rest der Gruppe ein Stück oberhalb auf uns wartet. Der Jeep wendet und fährt wieder hinauf. Man kann schon ein wenig neidisch werden, wenn man sich vorstellt, wie warm und vor allem trocken es jetzt dort drin im Wagen ist..... .

Immerhin bringt diese etwas längere Pause doch wieder Kraft für den Weitermarsch. Kurz darauf treffen die beiden Gruppen wieder aufeinander und marschieren nach dieser Lehre gemeinsam und in Sichtweite weiter. Und nach einem kleinen Hohlweg dann eine letzte Steigung hinauf über eine Wiese. Dort steht schon der Jeep und die beiden CF weisen uns mit dem Arm die Richtung: weiter nach rechts über den E1. Wir haben ihn also endlich erreicht. Die CF hätten wir hier trotz des Nebels nicht gebraucht: deutlich ist mitten auf der Wiese ein Pfosten mit der rot-weiß-roten E1-Wegmarkierung zu sehen. Nun kann es also "richtig" losgehen.

Endlich - der Steilanstieg von Colle herauf ist geschafft: wir erreichen den E1, der hier über die Höhen verläuft


Die Stimmung ist schlagartig um Etliches gestiegen! Von nun an dürfte es kaum noch Orientierungsprobleme geben; der E1 ist, zumindest in diesem Abschnitt , gut markiert. Außerdem sind Marianne, Jan, Christoph und Martin hier bereits 1994 unterwegs gewesen. Doch schon zeigt sich, daß gerade diese Erinnerungen an den nun folgenden Weg nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen! Alle vier haben nach Erreichen der Höhe den anderen einen leicht hügeligen Weg bis zum Monte Alago beschrieben - stattdessen geht es immer wieder in tiefe Mulden hinab und anschließend gleich wieder steil bergauf. Dazu kommt ein schneidender Wind, der denjenigen, die auf Regencapes als Regenschutz gesetzt haben, arge Probleme bereitet. Auch die eine oder andere Rucksackhülle macht sich im Sturm schon mal selbständig. Der Sturm allein wäre ja noch hinzunehmen. Hinzu kommen nun aber in dieser Höhe die Kälte und der nach wie vor starke Regen.

Fast schon abgestumpft setzten wir Fuß vor Fuß; stapfen hinab in die Mulden und kämpfen uns gegen den Wind gestemmt die Gegenanstiege wieder hinauf. Inzwischen sind wir alle mehr oder weniger durchweicht. Unsere Regenkleidung hat zwar noch nicht kapituliert und hält nach wie vor das Wasser von oben von uns fern; dafür sammeln wir unter dieser Schutzschicht immer mehr Schwitzwasser an. Und für unsere Kleidung macht es nun kaum noch einen Unterschied, ob wir von außen oder von innen durchnäßt werden. Selbst in den Schuhen beginnt es bei einigen verdächtig zu quietschen. Zum Glück taucht nun vor uns der Monte Alago im diesigen Restlicht des Tages auf. Zuerst müssen wir aber mal hinunter zum "Passo del Termine", und zwar bis auf 865 Meter.

Und hier stehen schon wieder die CF und meinen, in zwei Kilometern würden wir unser Ziel erreicht haben. Das Hinweisschild ein wenig weiter nennt allerdings noch vier Kilometer! Und die sind es nun wohl auch noch. Wieder ziehen wir in einer weit auseinander gezogenen Kette dahin. Und jetzt, am Ende der ersten Tagesetappe, schließt der Himmel seine Schleusen. Sogar die Sonne lugt ab und an hinter den Wolken hervor. Und uns wärmt zum jetzigen Zeitpunkt bereits jeder einzelne Sonnenstrahl!

Wir erreichen Monte Alago, nur um festzustellen, daß unser "alter" Platz zum Campen zwar wie eh und je existiert (und schön verlassen daliegt...); die Bar davor ist allerdings vom Erdbeben beschädigt und geschlossen. Zudem weisen uns die CF darauf hin, daß wir hier nicht übernachten dürfen, da es Privatgelände sei. Wir sollen ein Stück weiter zu einer Pizzeria gehen und dort zelten. Wir verabschieden uns von den Beiden bis zum nächsten Morgen und vereinbaren 10 Uhr als Treffzeit. Dann verschwindet der Jeep im Nebel und wir stehen mutterseelenallein an der einzigen Kreuzung herum. Aber nicht lange, denn die Pizzeria lockt! Die letzten Meter geht es flugs hinunter und siehe da: das Restaurant hat sogar geöffnet!

Für uns heißt das nun aber, erst einmal die feuchten Klamotten vom Leib zu bekommen. Um die Bude innen nicht ganz zu versauen, ziehen wir uns der Einfachheit halber draußen um - und das ist bis auf die Haut notwendig! Mit frischen Socken hüpfen wir dann in die Pizzeria und werden in eine Art Glasveranda komplimentiert. Dem Wirt ist unser Aufzug wohl etwas verdächtig. Dort ist es zwar nicht sonderlich warm, wenigstens aber trocken. Wir strecken die Beine aus, bestellen heißen Cappuccino oder Kakao, verfeinert durch den einen oder anderen Grappa. Das wärmt!

Leider können wir uns hier nicht allzu lange aufhalten; zu oft haben wir an diesem Tag Pause machen müssen - und jetzt wird bald die Dämmerung einsetzen. Um fünf machen wir uns also wohl oder übel wieder auf, um unsere Zelte aufzubauen. Natürlich gehen wir wieder zurück zu unserem alten Platz - egal, ob Privatbesitz oder nicht. Wir werden dort schon nichts beschädigen. Und in der Nähe der Pizzeria gibt es auch gar keine Möglichkeit zum Zeltaufbau.

Schon beim Weg zum Lagerplatz beginnt über uns ein Gewitter zu grummeln. Gerade, als wir die Metallschranke zum Platz überschreiten, schlägt ganz in der Nähe, bei einem Trafohäuschen, der erste Blitz ein.

Leider gibt es von den folgenden 12 Stunden weder Videoaufnahmen noch Fotos: sowohl Videocamera als auch Fotoapparat haben sich bei der im Moment herrschenden hohen Luftfeuchtigkeit abgeschaltet. So bleibt nur die Erinnerung an die nun folgende Übernachtung auf dem Monte Alago.

Und das wird eine Nacht! Pausenlos ziehen Gewitter über den Berg hinweg; immer wieder Einschläge in unserer Nähe. Zum Glück bietet das Waschhäuschen notdürftigen Schutz; wenigsten kochen können wir hier, geschützt vor dem erneut einsetzenden Regen. Das Gelände ringsum ist allerdings hoffnungslos aufgeweicht. Alexandra bekommt es hautnah zu spüren, als sie einen Spurt vom Zelt zum Waschhaus versucht und auf dem nassen Gras ausgleitet.

In einer Regenpause haben wir alle Zelte hochgezogen; jetzt stehen wir unter dem Überdach des Waschhauses gegen die Rückwand zusammengedrängt (denn leider ist das Waschhaus vorn ganz offen) und machen uns über heißen Cappuccino und Kakao aus unserem Vorrat her. Und die Medizinflasche mit ihren 54 Prozent erlebt ihren ersten Notfalleinsatz.

Nach einer heißen Nudelmahlzeit, im spärlichen Licht der Taschenlampen zubereitet und stehend gegessen, ziehen die meisten sich zu einer unruhigen Nacht in die Zelte zurück. Einige Hartgesottene bleiben noch ein Weilchen unter dem Vordach stehen. Nachts werden wir immer wieder durch die heftigen Gewitter aufgeschreckt. Einziger Trost: unsere Zelte halten dicht und trotzen dem heftigen Regen. Und da wir sie klugerweise jeweils auf kleinen Anhöhen im Gelände aufgebaut haben, kann uns auch der feuchte Boden nichts anhaben. Dennoch - ein Tour-Auftakt, wie wir ihn uns schlimmer nicht hätten vorstellen können. Ob die Trekking-Tour morgen überhaupt so weitergehen kann wie geplant, wird davon abhängen, wie lange wir noch trockene Sachen zum Umziehen haben werden. Sollte es morgen wieder so den ganzen Tag regnen, müssen wir abends eine feste Unterkunft suchen, in der endlich die nassen Sachen getrocknet werden können.


Mittwoch, 7.10.98, 6.Tag

Wir stehen relativ spät auf; so gegen acht Uhr. Unser erster Blick gilt natürlich dem Himmel: noch immer alles grau in grau. Der Regen hat aber weitgehend nachgelassen. Leider sind die Sachen, die einige von uns unterm Dach des Waschhauses zum Trocknen aufgehängt haben, über Nacht noch nasser geworden.

Von einigen anderen kommen so nach und nach weitere Hiobsnachrichten: alle Reservekleidungsstücke im Rucksack wären naß. Trotz eindringlicher Ermahnung, alle Kleidung innerhalb des Rucksacks durch zusätzliche Plastiktüten gegen Feuchtigkeit zu schützen, ist dieses Malheur nun passiert. Wir bekommen mit unseren nassen Sachen nun langsam ein ernstes Problem. Wenn das Wetter so anhält, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis wir abbrechen müssen.

Aber erst einmal wollen wir frühstücken. Unter dem Waschhausvordach sieht es katastrophal aus: überall liegen noch Kaffeetütchen und Nudelpackungen; gespült hat gestern Abend natürlich auch niemand. Arbeit gibt es also genug.

Keine Chance für uns, den gestern mit den CF vereinbarten Starttermin einzuhalten. Eins ist uns aber klar: hier oben, auf dem Monte Alago, können wir nicht bleiben. Also machen wir uns ans Abbauen der Zelte. Zum Glück hat es inzwischen ganz aufgehört zu regnen. Jetzt kommt uns zu Gute, daß wir jeweils für Außenzelt und Innenzelt verschiedene Packsäcke mitgenommen haben. So können wir die noch relativ trockenen Innenzelte sicher in den Rucksäcken verstauen. Diejenigen, die ein nasses Außenzelt tragen dürfen, schnallen es sich ganz oben auf.

Nachdem alles wieder in den Rucksäcken verstaut ist, säubern wir noch einmal gründlich den Lagerplatz und bringen alle Abfälle zu einem an der Kreuzung stehenden Container. Jetzt erinnert hier nichts mehr an unsere Übernachtung. Wieder starten wir mit voller Regenmontur; und wieder ist es beim Start trocken. Hoffentlich hält das heute länger an!! Der Weg ist schnell gefunden: an der Kreuzung ist der Weiterweg nach Bagnara, dem nächsten Dorf, gut ausgeschildert. Dazu haben wir auch noch zwei verschiedene Wegbeschreibungen, einmal von Helmut Dumler, zusätzlich die offizielle Beschreibung zur E1-Wanderkarte. Dennoch haben wir kurz darauf etwas Mühe, den richtigen Abzweig vom Teerweg zu finden. Wir sind froh, als wir endlich weitere Farbmarkierungen finden, zusammen mit "E1"-Beschriftungen. Vor vier Jahren sind wir hier oben dummerweise blind den rot-weißen Wegzeichen gefolgt und kräftig vom "echten" E1 abgewichen. Das hat uns damals einen ganzen Wandertag gekostet!

Über Wiesen geht es nun ansteigend weiter. Als wir erneut den Teerweg kreuzen, ist eine erste Pause fällig. Und hier ziehen erste Mutige bereits die Regensachen aus. Weiter geht es über eine Schotterpiste, auf der uns plötzlich die CF entgegenkommen. Sie haben uns schon etwas weiter, kurz vor Bagnara, vermutet. Wir beschreiben ihnen unsere Nacht und fragen, ob sie vielleicht in Annifo ein trockenes Quartier vorbereiten könnten. Die beiden Beamten sehen da allerdings keine Möglichkeit. Aber was soll`s ? Jetzt ist es ja trocken und es sieht im Moment auch nicht nach weiterem Regen aus (Die CF meinen aber, das schlechte Wetter würde sich laut Fernsehnachrichten erst am "Domenica", also am Sonntag, ändern. Das wären ja noch vier Tage Regen!

Da vertrauen wir doch lieber unserem "Yogi", der zur Freude aller tatsächlich ein Sonnensymbol zeigt. Was bleibt uns anderes übrig, als fest daran zu glauben? Unser Weiterweg führt uns nun steil bergab; all die mühsam gewonnenen Höhenmeter von gestern verlieren wir nun wieder. 400 Höhenmeter geht es insgesamt über steile und ausgewaschene Schotterpisten abwärts. An einem Brunnen machen wir Waschpause. Hier schälen sich nun auch die Letzten aus den Regenklamotten.

Endlich Gelegenheit, sich ohne Regen von ober waschen zu können


Programm gibt es hier am Brunnen auch: man kann wunderbar das Wasser aufstauen und wie kleine Kinder spielen. Derweil trocknen die ersten Socken und nassen Hemden auf den Trekking-Stöcken im leichten Wind.

Bagnara heißt nun unser nächstes Ziel. Uns ebenfalls von der `94er Tour her wohlbekannt. Damals waren wir in einem vom Reiseführer empfohlenen Restaurant und haben Trüffelspezialitäten probiert. Und der Wirt lud uns zu selbstgemachtem Kräutergrappa ein. Und jetzt? Schon beim Erreichen der ersten Häuser überall Schäden; Risse in den Wänden, heruntergestürzte Steine, Abstützungen. Eine alte Frau erklärt uns, daß im eigentlichen Zentrum von Bagnara nichts mehr los sei: das gesamte Leben spielt sich nun etwa einen Kilometer talaufwärts im neuen Containerdorf ab. Und dort befindet sich nun auch der von uns heißersehnte Alimentari! Wir lassen unsere Rucksäcke auf der Piazza zurück und kaufen im Alimentari nach Herzenslust ein - vorwiegend natürlich Getränke.

Danach machen wir es uns auf den Bänken auf der Piazza gemütlich und legen eine ausgiebige Mittagsrast mit Brot, Käse, Wurst und Thunfisch ein. Die Schuhe sind ausgezogen und können abtrocknen; nasse Kleidungsstücke werden ringsum über Zäune und Pfosten gehängt. Für die ab und zu vorbeikommenden Bewohner Bagnaras sicher ein ungewohntes Bild.

Und während wir dort sitzen, geschieht das kleine Wunder: hinter den Wolken blickt die Sonne hervor; zunächst noch zaghaft, dann in voller Pracht. Und nun wird es ganz schnell warm! Bella Italia - jetzt wissen wir, was damit gemeint ist. Und so machen wir uns mit frischer Kraft und bester Laune gegen halb drei an den letzten Teil unserer heutigen Tagesetappe.

Bei gutem Wetter starten wir ab Bagnara


Annifo liegt nicht mehr weit entfernt; vielleicht noch fünf, sechs Kilometer. Dort wollen wir heute Abend übernachten. Leider müssen wir vorher noch eine kleine "Bodenwelle" überwinden. Zunächst geht der Weg ja noch ganz harmlos durch`s Topino-Tal. Wir können unterwegs sogar Brombeeren abernten.

Dann beginnt der Weg aber anzusteigen. Schon längst haben wir unsere Jacken ausgezogen; jetzt folgen die Pullover und Hemden. Die meisten von uns begnügen sich beim Laufen nun mit den Funktionsunterhemden. Dennoch geraten wir auf den letzten Metern des Aufstiegs doch noch kräftig ins Schwitzen! Wieder einmal merken wir, wie schwer so ein Rucksack doch sein kann, wenn es bergauf geht!

Leider kommen kurz hinter Bagnara auch schon wieder erste steile Anstiege


Oben angekommen, treffen wir auf die CF und zu unserer Überraschung auch auf Franco. Er hat heute die drei Verpflegungssäcke entlang unserer weiteren Route verteilt und nennt uns nun die genauen Standorte. Durch ein weites Hochtal geht es nun nach Annifo. Unterwegs kommen wir an einer alten Frau mit Schafen vorbei, die freundlich grüßt. Und dann stehen wir mitten im Container-Camp von Annifo, vor dem Gemeindezentrum.

Ankunft im Container-Dorf Annifo


Annifo - diesen Namen kennen wir sogar aus den deutschen Nachrichtensendungen. Beim Erdbeben ist das am Hang liegende Dorf völlig zerstört worden; alle Einwohner leben nun hier unten, auf dem Piano, im neuen Container-Dorf. Sogar der Papst war schon hier, um sich über das Ausmaß der Katastrophe zu informieren.

Wir werden an einen englisch sprechenden Mitarbeiter des Katastrophen-Schutzes weitergereicht und erklären ihm von unserem Solidaritätsmarsch und bitten ihn um Hilfe bei der Beschaffung eines Lagerplatzes. Er fährt daraufhin mit Jan und Martin im Jeep zu einem Bauern, dem die Wiese gehört, auf der wir bereits 1994 (wild) gecampt haben. Kein Problem - selbstverständlich können wir auch in diesem Jahr dort übernachten. Der Bauer ist erfreut, als er von unserem Hilfsprojekt hört. Er bietet uns für den nächsten Morgen an, bei ihm Wasser zu holen. Wir können auch bei ihm den Müll abgeben.

Zurück in Annifo müssen wir uns von unseren stillen Begleitern der Corpo Forestale verabschieden: kurz hinter Annifo endet ihr Revier; ab morgen werden wir vom Commando di Norcia betreut. Nach einem Abschiedsfoto füllen wir noch schnell unsere Wasserflaschen und machen uns auf den Weg zum Lagerplatz.

Hier herrscht Platz im Überfluß - wir können uns also weiträumig mit den Zelten ausbreiten. Wir haben die Zelte gerade aufgebaut, da beginnt es zu tröpfeln. Es wird doch nicht? Doch - es wird! Der erste Regenschauer des Tages zieht über uns hinweg. Und weil es gleichzeitig schon dunkel wird, hat nur noch eine Gruppe Lust zum Kochen. Die anderen Gruppen ziehen sich mit Brot und Wurst in die Zelte zurück und verzichten auf ein warmes Abendessen.

Als wir schon in den Schlafsäcken liegen, fährt im Regen noch einmal der Jeep vor. Der Helfer erkundigt sich bei uns, ob wir noch irgendeine Unterstützung brauchen würden. Nun ja, die Weinvorräte sind etwas knapp, aber das wollen wir dann doch nicht sagen. Der zweite Trekking-Tag liegt hinter uns; im Vergleich zu gestern fast schon paradiesisch! Vor allem aber sind fast alle Sachen inzwischen wieder trocken. Zumindest hat jeder von uns wieder Reservekleidung im Rucksack. Wir brauchen heute also nicht mit Sorge an den nächsten Tour-Tag zu denken!


Donnerstag, 8.10.98, 7.Tag

In der Nacht hat es nochmals kräftig Regen gegeben - wird die Prognose der CF bis Sonntag doch richtig gewesen sein? Wir frühstücken, zwischen den Zelten stehend, bei einem Wetter, was auf italienisch wohl am besten mit "cosi - cosi" bezeichnet werden könnte. Also eigentlich gar kein Wetter! Zwischendurch gibt es einen kleinen Schauer, der uns wieder in die Zelte zurücktreibt. Als das vorbei ist, hängen wir rings um die Zelte wieder Sachen zum Trocknen auf; einige haben immer noch Probleme mit nassen Kleidungsstücken. Die Sonne entwickelt recht schnell genug Wärme, um die Zelte abdampfen zu lassen. Wir warten das Abtrocknen gelassen ab und gönnen uns einen zweiten Stehkaffee. Heute, am dritten Tag unserer Tour, können wir die Zelte erstmals weitgehend trocken einpacken.

Gegen 11:15 Uhr machen wir uns dann auf den Weg. Dignano ist das heutige Tagesziel. Vorher müssen wir aber erst einmal die Ebene von Colfiorito durchqueren. Und das erweist sich schon kurz darauf als ein etwas größeres Problem! Die tagelangen Regenfälle haben den Feldweg, auf dem wir uns nun entlang bewegen, in eine mittlere Seenlandschaft verwandelt.

Nach einiger Zeit kommen wir auf ihm gar nicht mehr weiter und müssen nebenan auf`s Feld ausweichen. Wir haben ja nur ein Paar fester Schuhe dabei und müssen dementsprechend sorgsam damit umgehen. Also heißt es immer wieder große Schritte machen und sich mit den Stöcken vor dem Ausrutschen schützen.

Der E 1 ist ab Annifo reichlich durchfeuchtet - schwierig zu laufen mit dem schweren Gepäck


Und dann wird es schwierig! Laut Karte und auch der Wegzeichen müßten wir uns links auf Colfiorito zu halten. Das geht aber nicht: ein riesiger See versperrt uns den Weiterweg. Das Sumpfgebiet des "Piano di Colfiorito" ist als UNESCO-Schutzgebiet und "Welterbe der Menschheit" eingestuft wegen seiner seltenen Pflanzen- und Tierwelt. Der tagelange Dauerregen hat nun dieses Sumpfgebiet dummerweise erheblich vergrößert! Uns bleibt also nichts übrig, als mit Hilfe der Karte einen ganz neuen Weg nach Colfiorito zu suchen.

Jan wird vorausgeschickt, um einen passenden Weg festzulegen. Wir anderen folgen in einer weiten Kette. Am Himmel tut sich auch etwas: dunkle Wolken treiben auf uns zu und lassen uns wieder mal in der Regenkleidung verschwinden. Lieber rechtzeitig die Überhosen anziehen, als plötzlich vom Regen überrascht zu werden. Man lernt im Lauf der Zeit dazu! In diesem Fall wäre es aber nicht nötig gewesen - die Wolken ziehen vorbei und behelligen uns nicht weiter. Ein neues Problem taucht auf: die Landstraße nach Colfiorito liegt auf der linken Seite des Tales - um hinzukommen, müssen wir über schlammiges Brachland hinweg. Und dabei kleben an unseren Schuhen enorme Erdmassen fest.

An der Bar bei Renzo in Colfiorito


Schließlich erreichen wir Colfiorito und streben der Bar von Renzo entgegen. Bange Frage: hat sie das Beben überstanden? Sie hat - und bald sitzen wir, mit kühlen Getränken und Süßigkeiten versehen, draußen unter dem Sonnensegel und lassen es uns gut gehen. Wie schon in unserem Reiseführer stand: vor der Bar von Renzo spielt sich das gesamte Leben des Ortes ab. So ist es. Wir sitzen mittendrin und beobachten das Treiben auf der Straße. Für einige von uns gibt`s in der Bar das erste Fernsehen seit Tagen! Nach ausgiebiger Pause geht es dann weiter zum Ende des Ortes. Hier, im Hotel Lieta Sosta, steht unser erster Verpflegungssack bereit.

In Colfiorito bekommen wir am Hotel Sosta den ersten Verpflegungssack


Genau nach Plan wird nun alles auf die 15 Teilnehmer verteilt - normalerweise müßte dann jeder wieder das "normale" Ausgangsgewicht haben. Das stimmt nun leider nicht, da wir bis jetzt noch nicht alles an Verpflegung aufgegessen haben. Es muß also noch mehr als geplant mitgeschleppt werden. Na, besser, man hat zu viel dabei als zu wenig!

An der Basilica von Plestia


Über eine breite Asphaltstraße geht es nun zügig aus Colfiorito hinaus. Nach einer Viertelstunde erreichen wir die Basilika di Plestia, oder auch Chiesa di Santa Maria genannt. An dieser Stelle hat sich schon einiges an Geschichte abgespielt! Ursprünglich stand hier mal ein Tempel der umbrischen Göttin cupra dea. Plestia, so hieß die umbrisch-römische Stadt, die sich bis zum Jahr 217 v.Chr. hier befand. Denn dann kam Hannibal und machte die Stadt dem Erdboden gleich! Die überlebenden Plestini bauten danach ihre Stadt wieder auf; zuletzt wurde sie um 1000 n.Chr. erwähnt und ging wohl infolge einer gigantischen Überschwemmung im Piano di Colfiorito unter. Aus ihren Steinüberresten wurde dann die Basilika gebaut.

Und jetzt hat das Erdbeben dieser Basilika stark zugesetzt! Auch hier überall Risse im Gemäuer. Ein Absperrband kann uns aber nicht an einem Blick in die Kirche hinein hindern. Viel zu sehen ist allerdings nichts.

Wir lassen die schweren Rucksäcke zu Boden gleiten und holen unsere Zwischenmahlzeit heraus, wie immer aus Brot, Käse und Salami bestehend. Jetzt versuchen natürlich diejenigen, die beim Hotel Lieta Sosta noch "Altverpflegung" hatten, diese als erste an den Mann zu bringen. Am Schluß liegen noch zwei Nudelpackungen herum, die anscheinend keinem gehören.

Nach der Pause erreichen wir bald darauf die Grenze zur Provinz Marken. Hier verlassen wir nun Umbrien für die nächsten Tage. Erst kurz vor Castelluccio wird der E1 wieder auf umbrisches Gebiet zurückkehren.

Wir queren die Grenze zwischen Umbrien und Marken


Leider empfängt uns auch Marken gleich mit einem ersten Anstieg. Von der kleinen Ortschaft Taverne (die aber leider keine Taverne besitzt) geht es nun in Richtung Dignano - und das schweißtreibend bergauf. In Dignano angekommen suchen wir nach unserem alten Alimentari - gibt`s nicht mehr; auch vom Beben zerstört. Dafür hat aber eine Bar geöffnet, deren Getränken wir nach dem Anstieg ausgiebig zusprechen.

Im Container-Alimentari, etwas außerhalb des alten Ortskerns, werden noch schnell die Weinvorräte für die nächsten drei Tage aufgefrischt: von jetzt ab wird die Strecke einsamer; Geschäfte oder Bars sind nicht mehr zu erwarten.

Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, daß jede Ortschaft ihr eigenes Container-Lager hat. In den Fernsehnachrichten war ja immer nur von Assisi die Rede - daß das Beben aber praktisch das gesamte Hinterland mit sämtlichen kleinen Dörfern so heftig getroffen hat, davon können wir uns jetzt erst ein richtiges Bild machen.

Oberhalb von Dignano liegt unser heutiger Übernachtungsplatz. Wir verzichten auf das letzte Stück hoch zum Monte Castello; dafür haben wir direkt den Brunnen bei unseren Zelten. Und so können wir uns nach dem Zeltaufbau in aller Ruhe und ausgiebig waschen. Nun ja, ruhig ist es nicht so ganz: eine Schafherde kommt auf dem Rückweg von der Weide an unserem Platz vorbei und macht einen Höllenspektakel.

In aller Ruhe können wir heute kochen; wir sitzen vor den Zelten und genießen die trockene(!) Abendstimmung. Zum Sonnenuntergang laufen wir ein paar Schritte hinüber zum Weg und schauen hinab auf das abendliche Dignano. Weiter hinten sind auch noch die Lichter von Annifo zu erkennen. Jetzt sehen wir noch einmal die doch beeindruckend lange Wegstrecke des heutigen Tages. Dementsprechend fest schlafen wir in dieser Nacht.


Freitag, 9.10.98, 8.Tag

Bestes Wetter! Nach dem Waschen am Brunnen kommen auch die ersten kurzen Hosen zum Vorschein. Wenn nicht heute - wann dann? In aller Ruhe wird gefrühstückt und abgebaut. Vor dem Aufbruch bringen wir noch den Müll hinunter nach Dignano - sonst müßten wir ihn in den nächsten zwei Tagen mitschleppen. Denn das ist natürlich Ehrensache: Müll von uns bleibt nirgends zurück! Notfalls muß er eben mitgetragen werden.

Nach der Umrundung des Monte Castello müssen wir tief in ein Tal absteigen, nur um auf der anderen Seite gleich darauf wieder einen steilen Gegenanstieg zu haben.

In diesem Jahr finden wir auch problemlos den Brunnen, nach dem wir vor vier Jahren vergeblich gesucht haben.

Jetzt kommt der erste richtige Steilhang der Tour!


Zum ersten Mal müssen wir einen richtigen Steilhang überwinden. Einen richtigen Weg gibt es hier nicht - das sind eher Viehspuren. Endlich sind wir oben - Zeit für eine ausgiebige Pause mit einem schönen Rückblick bis zu den Höhen vom Monte Alago. Direkt gegenüber liegt der immerhin bereits über 1500 m hohe Monte Pennino, der Hausberg von Bagnara. Wieder wird uns bewußt, welche enorme Strecke wir bereits zurückgelegt haben.

Auf einem schönen Panorama-Weg zwischen Dignano und Collatoni


Dem Reiseführer und unseren Erinnerungen nach folgt jetzt eine genußvolle Hangtraverse mit einem schönen Panoramablick. So ist es auch. Es geht zügig voran; auch der Rundumblick ist da. Leider auch auf die vielen Container neben jedem Dorf, das wir von oben sehen können. Und dann ist er zum ersten Mal sichtbar: der Monte Vettore, unser Endziel. Heute ist Halbzeit; 50 Kilometer haben wir bis jetzt geschafft!!

Gruppenfoto aus besonderem Anlaß: weit, weit weg ist im Hintergrund zum ersten Mal der Monte Vettore in den Monti Sibillini ins Blickfeld geraten


Vor dem Abstieg hinunter zum Fosso Cipolletta (1100m) machen wir oben auf dem Bergrücken eine lange Mittagspause. Das Tagesziel ist bereits in Sichtweite, wenngleich auch noch ein tiefes Tal dazwischen liegt. Der leichte Wind läßt die letzten feuchten Kleidungsstücke nun endgültig trocknen; sie hängen verstreut überall auf den Zweigen des kleinen Gebüschs, das uns, unten am Boden sitzend, genug Windschutz bietet.

Der Abstieg hinunter zum Paß bereitet teilweise doch recht große Mühe. Das Gewicht des Rucksacks drückt bergab; man spürt das Gehen in den Knien. Unten angekommen, klagt Manuel über Schmerzen an den Füßen; wir vergewissern uns, ob Blasen aufgetreten sind. Glücklicherweise ist das nicht der Fall; die für diesen Zweck mitgeführten Spezial-Blasenpflaster können (noch) in der Packung bleiben.

Abstieg zum Paß zwischen  Collatoni und San MartinaAuch im Zentrum von Colle deutlich sichtbare Spuren des Erdbebens


War der Abstieg schon beschwerlich, geht es nun beim Gegenanstieg richtig zur Sache! Trotz zweideutiger Markierung ist das Ziel klar: wir müssen hoch zum Gipfel des Colle Petetta auf 1334 m. Von dort ist es nur noch ein Katzensprung bis zur Flanke des Monte Cavallo, an der wir heute die Zelte aufschlagen wollen. Aber diese knapp 250 Höhenmeter, zum Ende der Tagesetappe, fordern uns noch einmal richtig.

Dafür werden wir oben mit einem weiten Rundblick belohnt. Zwischen grasenden Kühen und Pferden lassen wir unsere Rucksäcke fallen und suchen für die einzelnen Zelte ein geeignetes Plätzchen. Das ist gar nicht so leicht, weil einerseits die Wiese nur auf den ersten Blick schön eben erscheint; bei genauem Hinsehen findet man immer wieder Buckel oder Löcher im Boden. Und wenn dann noch drei, vier Leute bei einem Zelt unterschiedliche Meinungen über den besten Standort haben, dauert es halt ein Weilchen, bis jeder zufrieden ist.

Die Zelte können wir heute in aller Ruhe aufbauen; es ist früher als sonst, erst gegen 16 Uhr. Also noch genügend Zeit, in der warmen Nachmittagssonne zu sitzen und den Tieren zuzuschauen. Wir können einen schönen Sonnenuntergang genießen und machen uns dann ans Kochen. Allerdings wird es schon empfindlich kühl, nachdem die Sonne verschwunden ist. Wir liegen heute allerdings auch auf fast 1400m Höhe; das ist der bislang höchste Lagerplatz.

Der frühe Etappenschluß bringt uns heute noch ein Sonnenbad


Schon bald summt der Wasserkessel auf dem Gasbrenner. Es ist Zeit für einen verfeinerten heißen Cappuccino oder Kakao! Wir haben uns nach den Erfahrungen der letzten Tour für diesen Platz entschieden: von hier aus können wir leicht einen Brunnen erreichen; das hat uns heute das zusätzliche Gewicht des Kochwassers erspart. Und nach dem Essen können wir alles auch problemlos spülen.

Vor drei Jahren, bei der ersten Wandertour nach Castelluccio, gerieten wir hier in einen plötzlich heraufziehenden Nebel, der uns jegliche Orientierung nahm und damals ein Weiterkommen unmöglich machte. So haben wir seinerzeit praktisch durch Zufall diesen Brunnen entdeckt. Und genügend Trinkwasser zu bekommen - das ist bei 15 Teilnehmern ein sehr wichtiger Punkt bei der Tourenplanung. Unsere gesamte Trekking-Route basiert auf den Erfahrungen der Vorjahre. Dennoch bleibt das Risiko, daß fest eingeplante Wasserstellen z.B. durch das Beben versiegt sein könnten. Nun, hier an der Fontane delle Tassete sprudelt das klare (und wie wir beim Waschen bemerken auch leider eiskalte Wasser) reichlich wie eh und je.


Samstag, 10.10.98, 9.Tag

Und da haben wir ihn, den Nebel! Über Nacht hat sich das Wetter drastisch verändert. Hatten wir mitten in der Nacht noch einen funkelnden Sternenhimmel über uns, so pfeift uns jetzt ein schneidender Wind um die Ohren. Er ist so kalt, daß wir gerne Fleece-Mützen und Handschuhe anziehen. Schon von der ansteigenden Flanke des Monte Cavallo ist nichts mehr zu sehen - und das sind gerade mal ein-, zweihundert Meter.

Zudem ist dieser Nebel unangenehm feucht. Wir legen also wieder volle Regenkleidung an und machen uns ohne Frühstück auf den Weg. Hinter dem Monte Cavallo ist eine weitere Viehtränke. Die sollten wir eigentlich in ein, zwei Stunden erreichen können. Und dann wollen wir, hoffentlich etwas windgeschützter und schon wieder aus der Nebelzone heraus, frühstücken.

Zuerst läuft ja auch alles noch ganz gut. Es dauert zwar ein Weilchen, bis wir den richtigen "Einstieg" hoch zum Poggio Martello, dem Gipfel des Monte Cavallo gefunden haben, aber dann ist der Weg hinauf eigentlich nicht mehr zu verfehlen. Unter dem Regenzeug geraten wir beim nun steilen Anstieg über den Schotterweg arg ins Schwitzen. Immer wieder bleiben wir stehen, um nach Luft zu schnappen. Eine wahre Plage, dieser Anstieg vor dem Frühstück!

Wie heißt es doch so schön im Reiseführer: bei Nebel Orientierungsschwierigkeiten!


Aber es soll heute noch schlimmer kommen! "Am Ende des breiten Weges gerade über die Wiese; rechts wölbt sich eine Kuppe des Monte Cavallo. Der folgende breite Sattel wird halb links verlassen. Aus der Mulde, das heißt links der Hangwiese, empor zum baumbestandenen Poggio Martello (1499m), dem höchsten der Gegend." So heißt es in unserer Wegbeschreibung. Das Ende des breiten Weges haben wir nun erreicht - aber wo ist die Kuppe, wo der breite Sattel?? Der Nebel ist so dicht geworden, daß wir um uns herum keinerlei Landmarken mehr erkennen können. Und das schafft nun ein erstes, ernstes Problem. Denn zu unserem Pech finden wir auch keine rot-weiße Wegmarkierung mehr.

Erste Vorsichtsmaßnahme: die Gruppe muß ab sofort eng und in Sichtweite zusammenbleiben. Wer sich jetzt hier im Nebel verirrt....... Wir sollen ja empor, heißt es bei Helmut. Nun, wir halten uns links und steigen immer weiter hangwärts auf. Das kann ja nicht falsch sein, wenn wir zur Kuppe des Martello wollen. Ist es aber! Als wir oben ankommen, zeigt Yogi gerade mal 1437 Meter an. Während die etwas Skeptischeren unter uns das auf Yogis Ungenauigkeit zurückführen; zeigen sich bei den schon mal Hiergewesenen erste Sorgenfalten auf der Stirn: das kann nicht der Poggio Martello sein - in unserer Erinnerung sah er ganz anders aus! Wir suchen also ringsum und werden fündig: noch ein weiterer Hang liegt da vor uns! Unter dem Geläut unsichtbarer Kuhglocken erklimmen wir auch diesen Hang. Außer den geisterhaften Schemen unserer Gruppe, die sich fast im Nebel verlieren, ist nichts zu sehen. Aber es geht zumindest weiter bergauf, wie Yogi zeigt. Und siehe da: 1499 Meter auf der Spitze des Hügels! Na also, das ist der Poggio Martello. So kennen wir ihn.

Leider haben wir von hier oben null Aussicht. Schade, von hier aus hätte man den Monte Vettore gut sehen können. Aber die mangelnde Aussicht beschäftigt uns nicht besonders: wichtiger ist die Frage, wie es von hier aus weitergehen wird.

"Südöstlich absteigen, entlang dem Laubwaldsaum in 5 Minuten zum quergestellten Rücken." Und hinter diesem Rücken geht es urplötzlich steil in die Tiefe. Es heißt also aufpassen! Und wir sind froh, als wir an den Bäumen wieder unsere Farbmarkierungen finden. Jetzt wissen wir, was es heißt, wenn Dumler sagt: "Achtung! Orientierungsschwierigkeiten bei Nebel!"

Den quergestellten Rücken erreichen wir nun; auch der Abgrund ist zu erahnen, wenngleich seine Gefährlichkeit wegen des dichten Nebels nicht allzu deutlich zu erkennen ist. "Links in den Laubwaldschatten, wo die roten Kleckse sicher leiten. In die Forca (1190), eine Scharte, benötigt man eine halbe Stunde."

Toll! Bei guter Sicht vielleicht! Wir jedenfalls verirren uns nun gründlich. Verirren ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck: wir finden einfach nicht mehr den Weiterweg. Plötzlich sind keine Wegzeichen mehr zu finden. An einem Baum die letzte Markierung - danach nichts mehr. Klugerweise machen wir jetzt erst mal Stop!

Jan, Michael und Martin schwärmen alleine aus, um den weiteren Weg zu finden. Irgendwo muß doch was Rotes zu finden sein. Ist es aber nicht. Dafür verläuft sich nun Martin beinahe selbst. Wir wollen schon aufgeben und so lange Rast machen, bis sich dieser verfluchte Nebel mal auflöst; notfalls hier sogar für heute Schluß machen, da hören wir Michael rufen: er hat das nächste Zeichen gefunden, keine dreißig Meter von uns entfernt - allerdings in einer völlig anderen Richtung, als von uns vermutet. Gott sei Dank! Es geht nun zügig weiter. Nur raus aus dem Nebel - und natürlich haben wir inzwischen auch ordentlich Hunger.

Trotzdem dauert es noch ein Weilchen, bis wir durch den Laubwald abwärtsgestiegen sind; der rutschige Boden macht das Ganze auch nicht gerade leichter. Und plötzlich reißt der Nebel auf, und wir sehen den gestrigen Gegenhang in vollem Sonnenlicht.

Unten, an der Viehtränke, wird nun ausgiebig gefrühstückt. Die Abfälle können wir einem Ehepaar mitgeben, das hier oben Pilze gesucht hat und nun zu seinem Auto zurückkehrt. Beim Weiterweg lassen wir die "Frischlinge" den richtigen Weg suchen anhand der Wegbeschreibung. Wir haben an dieser Stelle 1995 über eine Stunde verzweifelt nach der weiteren Route gesucht. Aber auch in diesem Jahr fällt die Orientierung nicht leicht. Da die Zeit mal wieder drängt, greifen wir schließlich ein, um die Suche abzukürzen. Durch unser Nebelabenteuer haben wir doch recht viel Zeit verloren. Uns wird langsam klar, daß heute noch ein gutes Stück Weg vor uns liegt.

Ohne Rast geht es weiter; über einen auch im Reiseführer beschriebenen Zaun, der neuerdings bequem mit Hilfe einer Zaunleiter überklettert werden kann.

Immer noch einfacher, als mit dem Gepäck unter den Stacheldrahtzäunen durchzukriechen


Nächstes Ziel ist nun das "Valle di Tazza"; von uns kurzerhand in "Tatzental" umgetauft. Hier besteht wieder die Möglichkeit, am Brunnen die Feldflaschen aufzufüllen. Auf der heutigen Etappe haben wir mit den Wasserstellen wirklich keine Probleme.

Nach dem Tatzental ein kurzer Anstieg, ehe wir über einen kleinen Paß hinunter zu einer Schutzhütte kommen, bei der uns laut Reiseführer schon von weitem das Gebell des Hirtenhundes empfangen und der Hirte für Wanderer ein Glas Rotwein bereithalten soll. Wir sind gespannt! Tatsächlich - eine Schafherde samt zugehörigen Hunden wird sichtbar. Und sogar zwei Hirten sind in der Nähe. Als wir uns dem Haus nähern, kommen die Hirten zu uns heran. Das entwickelt sich gut! Wir kommen mit ihnen ins Gespräch (inzwischen haben wir soviel an italienischen Brocken drauf, daß wir uns leidlich über woher und wohin und warum verständigen können); erfahren von ihnen aber zu unserer Enttäuschung, daß hier in diesem Haus niemand mehr wohnt; und das schon lange nicht mehr. Nur bei einem Unwetter würde ""la casa" noch genutzt. Nix mit vino!

Eine der seltenen Begegnungen mit Hirten in dieser verlassenen Gegend



Trotzdem mal ganz interessant, sich mit den Einheimischen auszutauschen! Außerdem eine willkommene Gelegenheit, die Rucksäcke abzusetzen und eine kurze Pause einzulegen. Eine halbe Stunde später erwartet uns eine besondere Strapaze: er beschwerliche Abstieg über eine Geröllstrecke hinunter nach Croce. Wohl dem, der einen Stock hat! In Croce machen wir Mittagsrast; besonders die Schoko-Rosinen finden gerne Abnehmer. Nach Croce haben wir zurück einen guten Blick auf den Geröllabstieg.

Rückblick auf den Geröllabstieg hinunter nach Croce


Tief hinab führt uns nun der Weg. Nach einer Bachüberquerung gelangen wir zwischen die Felswände des "Fosso di Torsa". Hier verlassen wir den Feldweg und folgen den Farbzeichen mehr oder weniger querfeldein.

Zwischen den Felswänden des


Der Weiterweg gestaltet sich schwierig. Wir sollen die letzten paar hundert Meter zur Hauptstraße dem Hang entlang folgen. Das tun wir auch, müssen aber jede Menge an Dornenranken hinnehmen (und etliche Kratzer). Wir können uns kaum vorstellen, daß dieser Teil des E1 noch häufig begangen wird. Aber schließlich ist auch dieses Hindernis überwunden und wir gelangen über eine Treppe hinab zur Staatsstraße 209. Eigentlich kein besonderer Punkt, sieht man mal davon ab, daß wir inzwischen bis auf 490 Höhenmeter abgestiegen sind und gleich wieder, beim letzten Stück der heutigen Tagesetappe, bis auf 750 Meter aufsteigen müssen. Nein, viel mehr zählt für uns die Tatsache, daß sich genau hier die einzige Trattoria auf der gesamten Strecke von Dignano bis nach Castelluccio befindet. "Trattoria del Pescatore", zu deutsch: Fischer-Kneipe. Ruhetag: Mittwoch - aber heute ist ja Samstag! Die Vorfreude auf den Besuch dieser Trattoria ist in den letzten Stunden ständig gewachsen!

Und so sitzen wir bald darauf im Glasvorbau der Trattoria und genießen die kalten Getränke. Umrechnungs-Versuche ergeben schnell die Gewißheit, daß es wesentlich billiger kommt, sich eine 1-Liter-Flasche Cola zu teilen, als drei 0,33er Dosen zu bestellen.

Welch ein Genuß nach diesen Wandertagen!!


Die Trattoria hat aber noch eine andere Bedeutung für uns: schon im Vorbau steht unser 2. Verpflegungssack; von Franco hier für uns deponiert. Und unsere Lebensmittel sind im Rucksack wirklich stark geschrumpft - bis Castelluccio kämen wir damit nicht mehr hin. Und dann noch die leckeren Erdnüsse und die Müsliriegel!

Wieder wird alles nach Plan verteilt; und wieder muß nun ein leerer Sack zusätzlich mitgeschleppt werden. Dafür gönnen wir uns zum Schluß unseres Besuches noch eine letzte Stärkung: zwei 5-Liter-Rotweinflaschen wechseln schnell den Besitzer und werden in die Trinkflaschen abgefüllt. Das muß jetzt bis Castelluccio reichen!

Auf der Straße rauscht derweil ein starker Wochenendverkehr vorbei; Autos und jede Menge Motorradfahrer. Für uns fast schon ein Bild aus einer längst zurückgelassenen Welt. Seit drei Tagen haben wir kein Auto mehr gesehen. Und siehe da, einer der Motorradfahrer scheint wohl in der letzten Kurve etwas zu schnell gefahren zu sein. Er kommt ohne Maschine über die Straße herangehumpelt. Na ja, er kann ja auch noch zum Trekking-Fan werden und zu Fuß gehen!

In zwei Gruppen machen wir uns nun auf den Weg; die schnellere Mannschaft vorweg, um oben in Saccovescio einen Platz für die Nacht zu suchen. Böse Erfahrungen aus 1995 haben uns zu diesem Vorgehen gebracht - damals kamen wir erst bei einsetzender Dämmerung in Saccovescio an und mußten auf einer privaten Wiese an der Straße bereits bei Dunkelheit unsere Zelte hochziehen. Das können wir uns diesmal mit 15 Personen und 5 Zelten natürlich nicht erlauben.

Bei der Chiesa delle Neve soll sich ein Spielplatz befinden, und dort darf gezeltet werden (laut Dumler). Und diesen Spielplatz gilt es nun noch bei Helligkeit zu finden! Das klappt auch - als die langsamere Gruppe das Ortsschild von Saccovescio erreicht, leiten uns "Lotsen" von Ecke zu Ecke durch das (ausgestorbene) Dorf bis hin zur etwas außerhalb gelegenen Kirche (eher eine kleine Kapelle). Und hier ist tatsächlich ein abgelegener Spielplatz, auf dem wir flugs unsere Zelte hochziehen - denn schon wird es dunkel!

Mitten im Aufbau stoppt ein Wagen auf dem kleinen Vorplatz (den wir gleich "unsere Piazza" taufen werden) an der Kapelle. Au wei, gibt das Ärger wegen des wilden Campens? Nein, die zwei Italiener, die nun zu uns herüberschlendern, möchten nur wissen, wer wir sind und woher wir kommen. Und schon beten wir unser altes Sprüchlein von unserer Solidaritätsaktion herunter. Und nun sind die Beiden baff! Sie stammen aus Rom, machen hier in der Nähe Urlaub und können es kaum fassen, daß eine deutsche Jugendgruppe sich auf den Weg in diese Einöde gemacht hat, um ihre Solidarität mit der umbrischen Bevölkerung zu zeigen. Wir erzählen noch ein wenig von dem Begegnungszentrum in Colle und die beiden Italiener fragen uns, ob sie uns auf irgendeine Weise helfen oder unterstützen können. Ob wir vielleicht irgendwas benötigen würden?

Wir bedanken uns - aber an diesem Abend sind wir wirklich mit allem versorgt! Nach dem Abschied von ihnen haben wir die Piazza wieder ganz für uns allein. Sogar Straßenlampen gehen kurz danach an und ermöglichen uns ein angenehmes Kochen; auf den zum offenen Viereck zusammengestellten Parkbänken. Wirklich ein schönes Plätzchen.

Und endlich mal nicht so kalt! Nach dem Abendessen sitzen wir noch lange zusammen. Jan wagt sogar ein kleines Tänzchen zu unserem neuen "Trekking-Song" (Ci en vacances racontant faites le CanCan). Der Abend wird noch lang und ziemlich lustig. Na ja, angestrengt haben wir uns die letzten Tage wirklich genug! Zeit für einen gemütlichen Abend!


Sonntag, 11.10.98, 10.Tag

"Als ob die Tür zur Außenwelt sanft hinter uns ins Schloß fiele, so verabschiedet sich Saccovescio. Noch sind die Lieder schwer. Droben beim Brunnen fließt bereits helles Licht über das riesige Mosaik aus Grüntönen. GEA-Wanderer streben ihrem längsten Marsch entgegen: zwei Tage ohne Bett, ohne Lebensmittelnachschub, Viehtränken sind die einzigen Wasserstellen. Schatten ist ein oftmals ersehnter Komfort. Nagelprobe für Zivilisationsverwöhnte! Abgesehen von der Mühsal wird die größtenteils menschenleere Strecke bis Castelluccio zum nachhaltigen Erlebnis. Starkes Empfinden und sinnliches Spüren von Stille."

Unser guter Helmut und seine Beschreibungen! Fest steht heute Morgen erst einmal, daß wir nichts sehen können! Wir stecken mal wieder im tiefsten Nebel. Anders aber als gestern ist es oben am Himmel heller: über dem vor uns aufragenden Berg kündigt sich durch den Nebel der Sonnenaufgang an. Wir haben die Hoffnung, daß sich dann auch der Nebel schnell auflöst.

Nach und nach kommen alle aus den Zelten und versammeln sich auf der Piazza zum Frühstück. Leider müssen wir nun erst einmal unsere ganzen Abfälle zusammensuchen: über Nacht haben sich wohl Hunde mit unseren Mülltüten beschäftigt und auf der Suche nach Freßbarem alles weit verstreut. Ansonsten hatten wir eine ruhige Nacht, bis auf eine Störung durch einen verrückten Autofahrer, der auf der Piazza anscheinend Bremsproben und Kavalierstarts übte.

Nach dem bequemen Spülen am Brunnen werden die Zelte abgebaut und verstaut. Allzuviel Trinkwasser nehmen wir nicht mit; oberhalb des Dorfes soll noch ein weiterer Brunnen kommen - wozu also das Gewicht ganz von unten hochschleppen? Während sich der Nebel über uns langsam lichtet, machen wir uns an den vor uns liegenden Aufstieg. Von 750 m müssen wir heute bis auf 1350 m aufsteigen - und das ununterbrochen an einem Stück! Das nun folgende Wegstück bis zum Acquaro-Tal kennt niemand von uns; 1995 mußten wir ab Saccovescio eine andere Route nehmen, um endlich unsere Lebensmittelvorräte zu ergänzen. Sollte der Nebel also auch weiter oben anhalten, müssen wir mit ernsten Orientierungsproblemen rechnen.

Kaum aber haben wir die ersten 20, 30 Höhenmeter geschafft, kommen wir aus der Nebelschicht heraus. Während Saccovescio und unser Spielplatz noch in dichten Nebelschwaden liegt, wandern wir bereits durch helles Sonnenlicht. Der Himmel über uns wölbt sich strahlendblau und es verspricht ein schöner Tag zu werden. Das ist einerseits natürlich prima - andererseits macht uns schon jetzt die Sonneneinstrahlung zu schaffen! Da hat Helmut mit seiner Prognose also schon mal recht.

Diesen Steilanstieg von Saccovescio herauf werden wir so schnell nicht vergessen


Leider stimmt die Geschichte mit dem Brunnen oberhalb des Dorfes nicht mehr so ganz: der Brunnen ist zwar da, aber das Wasser fließt nur in einem dünnen Rinnsal und ist zudem noch stark mit Algen durchsetzt. Also nichts mit Wasserflaschen füllen - und das bereuen jetzt diejenigen, die unten zu wenig Wasser mitgenommen haben. Steil zieht sich der Weg hoch, und der Durst wird umso größer, je weniger man als Vorrat in den Flaschen hat.

An einer Weggabelung, 1100 m hoch gelegen, sollen wir den oberen Weg nehmen. Nach den Zeiten, die Helmut angibt, können wir uns dabei nicht richten (danach müßten wir die Gabelung nach einer Stunde erreicht haben), da er wohl ein etwas forscheres Gehtempo zugrundelegt (nach seiner Beschreibung soll man von Colfiorito bis Castelluccio nur 2 Tage unterwegs sein - wir haben dafür 4½ Tage eingeplant!). Zuverlässiger ist da schon Yogi, der zumindest die Höhenmeter exakt angibt (wenngleich seine Wetterprognose manchmal auch etwas ungenau ist......). Und tatsächlich: bei 1100 m erreichen wir die beschriebene Gabelung. Hier machen wir die erste längere Rast des Tages, liegen mit freiem Oberkörper in der Sonne und schauen zurück bis hin Monte Cavallo und der Steilflanke, in der wir uns im Nebel verirrt haben. Heute liegt die gesamte Wanderstrecke in strahlendem Sonnenschein. Nur in den Tälern liegen noch dicke Nebelschichten.

Der Weiterweg wird anstrengend; es geht pausenlos bergauf, die Sonne brennt. Wieder eine Viehtränke, diesmal mit genug Wasser. Und leider die einzige Wasserstelle, zu der es im Reiseführer heißt: Finger weg! Das Wasser ist ungenießbar, da es aus einem etwas oberhalb gelegenen Freiluftspeicherbecken stammt. Na ja, wenigstens waschen können wir uns hier.

Nach dieser Viehtränke, der letzten bis zum heutigen Abendquartier im Acquaro-Tal, gelangen wir bald über die Baumgrenze. Durch ein absolut ödes Hochtal gelangen wir schließlich hinauf zur aussichtsreichen Kuppe 1379, einem östlichen Ausläufer der Monti Moricone. Und als wir die letzten Meter hochsteigen, haben wir wirklich einen tollen Blick auf die vor uns liegende Bergwelt der Monti Sibillini!

Geschafft - wir haben die erforderliche Höhe erreicht


"Der Süden, wo unsere Wünsche ruhen, scheint zu entschweben, ist aber verwurzelt im uferlosen Blau. Berge wogen in Reihen, endlos, könnte man meinen, weil man beim Laufen bescheiden wird. Jeder ist ein winziger Meilenstein im frischen Wind, weckt Gedankensplitter und Durst in der Hitze. Die Sonne läßt grüßen!"

Wohl wahr! Vor allem, was den Durst betrifft; aber auch die Aussicht kann sich sehen lassen. Weiter unten liegt eine Art Bauernhof. Ob es da was zu Trinken gibt? Vielleicht sogar Käse und Wein? Die Schritte hinunter werden schneller; wir umrunden das Haus: Fehlanzeige, alles schon längst verlassen und aufgegeben. Wir müssen uns mit den eigenen Vorräten begnügen.

Wir lassen uns im saftigen Gras nieder, teilen Knäckebrot, Käse und Wurst miteinander und verbessern den Geschmack des Trinkwassers durch ein paar Vitamintabletten. Die Schuhe werden ausgezogen, damit die heißen Füße etwas "abdampfen" können. Schön ist es hier oben! Wohin man schaut, eine beeindruckende Bergwelt.

Weiter geht es dann, fast schon genußvoll schlendernd, am Hang entlang. Ab und zu sehen wir Schafherden; einmal sogar einen Hirten! Ansonsten sind wir allein hier oben. Ein schöner Sonntag!

Am Brunnen im Acquaro-Tal - eine der wichtigen Wasserstellen unterwegs


Nach einem steilen Abstieg erreichen wir dann den Brunnen im Acquaro-Tal. Und weil das Wasser hier sauber und reichlich fließt, weichen wir von unserer Gewohnheit ab und kochen bereits hier. Das erspart uns für das letzte Wegstück die lästige Schlepperei des Kochwassers. Zwischendurch müssen wir das Gelände kurz räumen, um einer durstigen Schafherde Platz zu machen.

Schafe haben hier natürlich Vorfahrtdbebens


Wir stehen nun vor der Entscheidung, entweder hier unten im Tal an der Wasserstelle zu bleiben, oder noch einen Abhang hochzuklettern um auf einem Vor-Plateau des Poggio Valcagora zu zelten. Wir wählen die zweite Möglichkeit. Da oben sind wir zwar dem Wind ausgesetzt; andererseits ist dies der letzte Abend unserer Wanderung und wir möchten noch einmal einen schönen Sonnenuntergang miterleben.

Schon während wir den doch recht steilen Abhang hochkeuchen, verändert sich das Licht. Alles scheint irgendwie in goldenes Licht getaucht zu sein. Oben angekommen, setzen wir die Rucksäcke ab und lassen erst einmal alles stehen und liegen. Wir schauen einfach schweigend dem Sonnenuntergang zu.

Beeindruckender kann ein Sonnenuntergang wohl kaum sein - und wir haben uns diesen Anblick redlich verdient!


Erst, als die Sonne vollständig hinter den Bergketten verschwunden ist, ziehen wir unsere Zelte hoch. Inzwischen ist dies eine routinemäßige Sache geworden, bei der jeder Handgriff sitzt. Es wird nun allerdings damit auch Zeit, denn schon wird es empfindlich kühler. Auf den Rucksäcken und auf den Zeltdächern schlägt sich bereits der erste Tau nieder. Ein gutes Zeichen! Regen dürfte es in der Nacht also nicht geben.

Das ist nun also der letzte Abend unserer Trekking-Tour morgen werden wir Castelluccio erreichen. Und damit haben wir insgesamt bereits 100 Kilometer gelaufen; unsere Sponsoren können mit uns zufrieden sein! Wir sitzen draußen vor den Zelten; unten, im Tal nach Norcia hin , sieht man einige Lichter aufflammen. Ansonsten ist es rundum völlig einsam - nichts deutet auf andere Menschen hin. Wir genießen einen letzten heißen Cappuccino und ziehen uns dann fröstelnd in unsere warmen Schlafsäcke zurück. Dies ist mit etwa 1400 Metern der höchste Lagerplatz. Der Himmel ist klar; voller Sterne, und außerhalb der Zelte leider auch dementsprechend kalt!


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