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Sonntag, 5.4.98, 9. Tag
Palmsonntag auf Sizilien – auf Palmen werden wir heute aber erst in
der Mittagszeit stoßen. Noch liegen wir inmitten der prächtigen Blumenwiese.
Und noch ahnen wir nicht, daß der heutige Tag der härteste Tag der gesamten
Tour werden wird; mit fast 90 Kilometern Fahrtstrecke. Aber auch das
ist das Schöne an solchen Radtouren: man weiß vorher nicht, was einen
erwartet.
Beim ersten Morgenkaffee geht die Sonne auf; leider über Land. Zum Frühstück
sind wir dann wieder im Ort; hier kaufen wir im Alimentari der Canada-Bar
frisches Brot, Butter, Milch, Käse und Mortadella, und machen es uns
damit in einer Art Pergola direkt am Strand bequem.
Zuvor wollen wir uns zwar an einer Art Tisch; auf jeden Fall mit einem
Wasseranschluß, waschen – dann tauchen aber Fischer auf, die auf diesem
Tisch ihren Fang zerlegen und spülen wollen. Also ziehen wir uns nur
halbgewaschen zum Frühstück zurück. Weil wir die Räder dabei ein Stück
weiter unten, bei der Waschstelle, abgestellt haben, kommt der Wirt
plötzlich zu uns und meint, wir sollten sie besser näher heranholen.
Wir sind ihm für diesen Tip dankbar; sind wir doch inzwischen durch
die bislang ausschließlich positiven Kontakte zu den Sizilianern vielleicht
etwas zu gutgläubig geworden.
Svenja hat zunächst viel Spaß mit einer kleinen Katze, die sich gerne
von ihr füttern läßt. Als sie dann aber in einem unbeobachteten Moment
gleich das ganze Mortadella-Brötchen vom Tisch angelt, wird Svenja doch
böse (die Scheiben waren leider auch genau abgezählt). Mehrere Sonntagsspaziergänger
kommen zu uns und fragen uns über unsere Reisepläne aus. Und zwei freundliche
Sizilianer begleiten uns dann wieder aus dem Dorf hinaus und bringen
uns auf die richtige Küstenstraße nach Mazara. Vorher aber schwatzen
wir dem Wirt noch ein Olivenölfläschchen ab, das er eigentlich nur zur
Dekoration auf der Theke stehen hat. (Es steht heute noch bei M&M in
der Küche).
Die Strecke nach Mazara am Meer entlang läuft phantastisch! Blauer Himmel,
azurblaues Meer, angenehme Wärme, kein Gegenwind, flache Strecke ohne
Verkehr. Mit einem Wort: paradiesisch! Die 11 Kilometer bis Mazara sind
schnell geschafft. Im Ort ist zur Zeit Kirmes; außerdem geraten wir
in die Palmprozession. Vorsichtig schlängeln wir uns durch die Menschenmassen.
Am Ortsausgang, zum Glück wieder ruhiger gelegen, ein Straßenbrunnen,
der zum Haarewaschen einlädt: bald rinnen Wasserströme über die staubige
Straße.
So erfrischt geht es an die nächste Etappe: 20 Kilometer auf der SS
115 liegen nun vor uns bis zum berühmten Ort Marsala. Wer hätte noch
nicht vom dortigen Marsala-Likör gehört? Unterwegs noch eine Pause an
einer „Pistazzeria“ (Konditorei), wo wir uns zur Feier des Palmsonntags
mit Sahneschnittchen, süßem Gebäck und Eis vollstopfen, bis wir keinen
Kuchen mehr sehen können.
Auf der schnurgeraden SS 115 schaffen wir teilweise eine Geschwindigkeit
bis zu 35 Km/h! In Marsala halten wir dann an der Promenade und legen
eine längere Siesta-Pause ein, da es inzwischen doch wieder sehr heiß
geworden ist. Ein kleiner Brunnen gibt Kühlung für die Füße und Kühlwasser
für unsere Getränkeflaschen.
Bei der anschließenden Durchquerung der Altstadt von Marsala stoßen
wir überall auf kleine Geschäfte, die den Marsala-Sherry verkaufen und
auch zum Probieren einladen. Das lassen wir uns natürlich nicht entgehen!
Danach noch ein paar Fotos rund um die riesigen Sherry-Holzfässer, ehe
wir den westlichsten Punkt unserer Tour verlassen und mit Rückenwind
weiter nordwärts strampeln. Trapani ist unser Ziel für den heutigen
Tag; hier soll es einen Campingplatz geben.
Im Dunst vor uns taucht bereits der Felsen von Erice auf. Auf 750 m
Höhe liegt dort die antike Stadt über der heutigen Hafenstadt Trapani.
Schon bei der Vorplanung haben wir allerdings beschlossen, daß wir Erice
selbst nicht ansteuern werden. 750 Höhenmeter sind uns einfach zu viel!
Unsere Fahrt führt uns durch ausgedehnte Salinen-Felder; früher einmal
war Trapani für seine Salzgewinnung berühmt. 12 Kilometer vor Trapani
– aber eigentlich schon am Stadtrand, eine letzte Pause in einer Bar.
Inzwischen sind wir schon recht müde. Der Barbesitzer meint, irgendwo
in Trapani müßte es einen Campingplatz geben; wir sollten mal bis ins
Zentrum fahren. Am Ortseingang dann tatsächlich auch ein erstes Hinweisschild
auf „Camping Valderice“.
Trapani ist dann aber eine einzige Enttäuschung: 80.000 Einwohner; dementsprechend
dicht bebaut; die Straßen ziemlich dreckig. Wir fahren durch verschiedene
Einbahnstraßen (aus Vereinfachungsgründen auch schon mal entgegen der
eigentlichen Fahrtrichtung....) bis zur Promenade am Meer. Unterwegs
keinerlei Hinweise mehr auf den Campingplatz. An der Promenade fragen
wir nach: niemand hat hier je was von einem Campingplatz in Trapani
gehört! Das ist nun freilich keine gute Nachricht! Jan und Martin fahren
sicherheitshalber zur örtlichen Carabinieri-Station; die müßten es doch
eigentlich wissen. Fehlanzeige; kein Camping in Trapani oder Umgebung.
In Marsala wäre einer gewesen, aber da kommen wir ja gerade her. Was
sollen wir jetzt machen?
Wir checken den Strand von Trapani, ob man dort abends unbemerkt die
Zelte hochziehen könnte. Aber einerseits liegt das zu nahe an der Stadt;
andererseits ist alles voller Müll. Ein Jogger erklärt uns, etwa 10
Kilometer weiter solle es am Strand von Pizzolungo einen Platz geben.
Uns bleibt keine andere Wahl, als dieser Angabe zu vertrauen. Müde und
mit schmerzendem Hinterteil machen wir uns also auf die nächste und
hoffentlich letzte Etappe dieses Sonntags. Der Verkehr ist inzwischen
sehr dicht geworden; wir müssen auf der gewundenen Küstenstraße höllisch
aufpassen, damit wir uns nicht mit den Fiats anlegen. Viele junge Leute
winken uns aus den Fahrzeugen zu. Na ja, die haben auch heute noch nicht
so viele Radkilometer in den Beinen! An einer Kreuzung fragen wir sicherheitshalber
nochmals nach: jawohl, noch 3 ½ Kilometer, dann soll der Platz kommen.
Und tatsächlich: ein unscheinbares Hinweisschild lockt uns in eine Toreinfahrt
hinein. Das soll ein Camping-Platz sein?? Sieht eher aus wie ein großer
Garten. Andere Gäste sind jedenfalls nicht zu sehen. Und wenn es ein
richtiger Platz ist – hat er dann überhaupt geöffnet? Bange Fragen –
denn zum Weiterfahren hat jetzt wirklich keiner mehr Lust! Wir fahren
bis zum Haupthaus vor, klettern müde und steif von den Rädern und schellen
an. Dann die große Erleichterung: wir dürfen hier zelten; und ein Alimentari
wird für uns auch noch aufgemacht. Na ja, außer Getränken gibt`s hier
kaum was zu kaufen, aber mehr verlangen wir auch heute nicht mehr. Erschöpft
sitzen wir draußen auf der Eingangstreppe und ruhen bei einem kühlen
Bier aus.
Danach suchen wir uns ein möglichst abgelegenes Plätzchen, ziehen die
Zelte hoch und bereiten dann unser Abendessen: als Vorspeise (wir haben
ja schließlich Sonntag!) gibt es einen frischen Tomaten-Zwiebel-Paprika-Salat
mit dem neu erworbenen Olivenöl; danach als Hauptgericht „Rollini Bolognese“.
Weil es uns auf dem Platz zu langweilig ist, machen wir anschließend,
nun schon im Dunklen, einen Spaziergang durch das umliegende Wohngebiet
bis zum Meer. Hier hat man riesige Promenaden neu angelegt; es ist aber
nichts los. Im Zelt dann als Schlummertrunk noch ein erstes Glas „Marsala
secco“ aus unserer heute erworbenen Souvenir-Flasche.
Tageswerte: 83 Kilometer; 4:39 Stunden im Sattel; Durchschnitt 17,76
(!) Km/h Gesamtkilometer: 424,92 Gesamthöhenmeter bergauf: 3360 m; bergab:
3312 m
Montag, 6.4.98, 10. Tag
Trotz der anstrengenden Fahrt des Vortages sind wir schon wieder ab
halb sieben mit Lesen beschäftigt; wir haben uns ans frühe Aufstehen
bei Sonnenaufgang gewöhnt. Marianne versucht sich an den Duschen und
den Toiletten; beides leider nur mit sehr mäßigem Erfolg, weil kein
Wasser kommt!
Fließendes Wasser gibt es erst, als etwas später der Platzwart kommt
und die Absperrventile öffnet. Und jetzt gibt es sogar heißes Wasser
– ein fast vergessener Luxus. Dementsprechend lange wird das Bade- und
Duschvergnügen ausgedehnt. Und als angenehme Zusatzüberraschung müssen
wir für alles nur 45.000 Lire hinblättern. In aller Ruhe wird bei dem
guten Wetter (gibt`s hier überhaupt mal richtig schlechtes Wetter) abgebaut;
es ist schon fast Routine, daß wir erst im nächsten Ort frühstücken
und vor dem Frühstück ein paar Kilometerchen hinter uns bringen wollen.
„Custonaci“ heißt das Örtchen; gerade mal so 10 Kilometer entfernt.
Dummerweise entdecken wir erst kurz vor dem Dorf den Doppelpfeil (!)
auf der Straßenkarte (7 – 11 %). Aber das haben wir auf den letzten
Kilometern schon geahnt, als die Straße vom Meer abwich und nun auf
ein schön hoch oben gelegenes Dorf zusteuert. Seit langer Zeit heißt
das mal wieder absteigen und ein wenig schieben – bei der Hitze, die
schon jetzt am frühen Vormittag herrscht, wäre alles andere nur Qual.
Am unteren Dorfende befindet sich der Friedhof; dort macht ein Bauarbeiter
gerade Frühstückspause und wir werden mal wieder auf Deutsch angesprochen.
Er hat 22 Jahre in St. Gallen in der Schweiz gearbeitet.
Für die Anstrengung werden wir im Örtchen durch ein gutes Frühstück
entschädigt. Mit traumwandlerischer Sicherheit haben wir auch wieder
den einzigen Park im Zentrum aufgespürt; schön schattig gelegen. Nach
einer solchen Pause fällt es uns immer wieder schwer, erneut auf`s Rad
zu steigen. Jetzt einfach hier sitzen bleiben und den Tag vertrödeln!
Und dann gleich im Ort auch noch steil weiter bergauf! Aber inzwischen
ist es schon 12:15 Uhr, und wir haben von unserem Tagespensum gerade
mal 10 Kilometer geschafft. Von unserer Friedhofsbekanntschaft haben
wir den guten Tip bekommen, nicht, wie geplant, über Busato weiterzufahren,
sondern einen kleinen Umweg zu machen, der uns aber steile Anstiege
ersparen wird. Diesem Rat folgen wir gern! Alles kann man aus der Karte
halt doch nicht entnehmen.
Nach Custonaci läuft es dann aber überraschend gut weiter. Das hat vor
allem damit zu tun, daß sich die Landschaft jetzt wieder etwas absenkt.
Unsere weitere Fahrtroute haben wir inzwischen abgesteckt: der Tempel
von Segesta ist das nächste Ziel; danach aber vor allem die Erdbebenregion
um Gibellina. Das bedeutet im Klartext: Abschwenken von der Küste und
hinein ins Landesinnere! Und das bedeutet zwangsläufig Steigungen....
Crocci, Lenzi und Napola heißen die nächsten Ortschaften am Weg, bis
wir dort wieder eine Staatsstraße, diesmal die SS 113, erreichen. Ihr
folgen wir bis zur mittäglichen Siesta, an die wir uns inzwischen gewöhnt
haben. Sizilien ist aber auch heiß im April! Wir gönnen uns immer längere
Fahrtabschnitte mit freiem Oberkörper, nachdem wir uns jetzt allmählich
an die intensive Sonne gewöhnt haben. Und natürlich nutzen wir jeden
geöffneten Alimentari oder eine Bar am Wegesrand, um uns ein Eis zu
genehmigen.
Die Mittagsrast dehnen wir heute bis fast halb vier aus! Wir liegen
im Schatten einer Ruine an der Landstraße und beobachten den spärlichen
Verkehr. Gegen 14 Uhr kommen ein paar Schulbusse vorbei; selbst eine
Schmalspurbahn ist brechend voll mit Schülern, die wohl von den Schulen
in Trapani nun heim in ihre Berg-dörfer fahren. Leider fährt der einzige
Fiat, der unseren Feldweg benutzt, dummerweise über Martins Thermobecher.
Na ja, bis auf eine Macke als Andenken überlebt er es zum Glück.
Das nächste Örtchen an der SS 113 heißt Fulgatore. Hier bekommen wir
zwar noch nicht das für den Abend notwendige Gemüse, da der Alimentari
noch nicht geöffnet hat, dafür können wir aber schon mal Benzin nachtanken.
Leider geht dabei etwas über den Flaschenrand und wir haben viel Mühe,
mit Toilettenpapier eine größere Sauerei in der Vorderradtasche zu unterbinden.
Trotzdem riecht die Tasche noch tagelang nach Sprit. Inzwischen hat
der Alimentari doch schon wieder auf und wir decken uns mit allem Notwendigen
ein. Trinkwasser wollen wir erst im nächsten Ort fassen.
Der heißt Ummari; kurz bevor die SS 113 eine neue Autobahn unterquert.
Da danach einige Zeit nichts mehr an Ortschaften kommt, wollen wir dort
einen Übernachtungsplatz suchen. Auf einem Bauernhof werden sämtliche
Wasserflaschen und der Sack gefüllt; kurz darauf biegen wir in einen
Feldweg ab und steuern einen Ruinenkomplex an. Sicherheitshalber zelten
wir aber mit etwas Abstand, als wir sehen, wie die Wände des noch stehenden
Haupthauses mit langen Balken abgestützt sind. Während wir kochen, landet
nicht weit von uns ein Paraglider. Jan wetzt natürlich hin und erfährt,
daß der nahegelegene Monte Grande (mit 751 m einer der größten Brocken
in der Gegend) eine beliebte Absprungstelle für Paraglider sei (vermutlich,
weil auf diesen Berg weit und breit die einzige Stichstraße führt....).
Da wir zum Kochen genügend Zeit haben, gibt es wiederum Salat als Vorspeise,
danach ist nochmals eine Nudelpfanne mit viel Cervelatwurst und frischen
Erbsen angesagt. Und zum Nachtisch zaubert Jan dann noch einen leibhaftigen
Schokoladen-Weihnachtsmann aus der Tasche. Dem ist die bisherige Tour
leider gar nicht gut bekommen (zumindest, was seine Form betrifft).
Da der Geschmack aber nicht beeinträchtigt ist, machen wir seinem Leben
einträchtig ein Ende.
Zum ersten Mal seit Tagen bezieht sich abends der Himmel – sollte das
ein Zeichen für einen Wetterumschwung sein? Doch nicht etwa Regen morgen
früh? Egal, ändern können wir es eh nicht – bald liegen wir im Zelt,
lesen und machen uns über unsere Weinvorräte in Tüten her. Das Thermometer
zeigt um 19:30 Uhr immer noch 16 Grad.
Tageswerte: 40,36 Km; 3:19 Stunden im Sattel; Durchschnitt 12,14 Km/h;
Max: 52,5 Km Gesamthöhenmeter bergauf: 4006 m; bergab: 3681 m (z.Z.
liegen wir inzwischen auf 308 m)
Dienstag, 7.4.98, 11. Tag
Wie üblich Kaffee um 7:30 Uhr; draußen vor dem Zelt (wenn auch etwas
fröstelnd), da die Sonne wie gewohnt vom blauen Himmel lacht. Weg sind
die Wolken des Vorabends! Gleich zu Beginn des Tages ein schweißtreibender
Anstieg auf der SS 113 von 300 auf 450 m (deswegen wollten wir gestern
ja auch nicht mehr weiterfahren...). Unterwegs können wir große Schotterwerke
neben der Straße bewundern. Um Segesta zu erreichen, haben wir zwei
Möglichkeiten: die Hauptstraße mit insgesamt 11 Pfeilen rauf und runter,
oder eine winzige Nebenstraße, ganz ohne Pfeile, die dazu noch den Vorteil
hat, das kleine Dörfchen Bruca zu berühren. Klar, wie unsere Entscheidung
nach dem gerade geschafften Anstieg ausfällt! Und in Bruca können wir
dann auch frühstücken. Können wir aber leider nicht – denn als wir nach
schöner Fahrt das 8 Kilometer entfernte Dorf erreichen, müssen wir leider
erfahren, daß es hier keinen Alimentari mehr gibt. Also, außer dem kostenlosen
Programmpunkt einer Abwehrschlacht gegen kläffende Dorfköter (gezogene
Luftpumpen helfen da enorm!), eine vergebliche Fahrt.
Jetzt sind wir aber auch schon kurz vor Segesta; die letzten paar Kilometer
bis dahin werden wir auch noch ohne Frühstück schaffen! Unterwegs noch
ein kurzer Fotostop bei einer einsamen Madonnen-Statue am Wegesrand,
dann ein unerwartetes Hindernis auf der Straße: eine riesige Schafherde
ist auf unserem Weg in der gleichen Richtung unterwegs. Kein Durchkommen
für unsere Räder – die Biester lassen sich nicht einmal durch unsere
Klingeln aus der Ruhe bringen. Plötzlich von weit her ein einzelner,
scharfer Pfiff, und sofort machen die Burschen für uns eine Gasse! Junge,
der Schäfer hat seine Herde aber im Griff! Wir bedanken uns durch freundliches
Winken und setzen ohne weitere Behinderungen den Weg nach Segesta fort.
Aber was war schon die Schafherde, verglichen mit den Massen von Touristen,
auf die wir jetzt stoßen! Tagelang waren wir allein auf Sizilien unterwegs
– jetzt erscheint der nächste Tempel: schon ist alles wieder voll von
kamerabehängten Urlaubern! Na, andererseits kommen wir so jetzt auch
mal wieder in den Genuß der vielen bewundernden Blicke. Manch einer
von denen würde wohl auch lieber luftig gekleidet durch Sizilien radeln,
als im Bus von einer Sehenswürdigkeit zur anderen kutschiert zu werden.
Aber – die hatten heute im Hotel alle ein tolles Frühstück, seufz.....
Wir parken die Räder vor den Souvenirbuden und genehmigen uns erst einmal
ein Schlückchen Roten; inzwischen schön angewärmt, aus unseren Thermobechern.
Und was sehen wir da: ein Preisschild über dem Zugang zum Tempel!
„Für Freunde klassischer Altertümer sind die Tempel und das Theater
von Segesta die Hauptattraktionen im Westen Siziliens. Allerdings handelt
es sich bei Segesta um keine griechische Kolonie, da die Stadt vermutlich
von den aus Troja stammenden Elymern gegründet wurde. Der Tempel von
Segesta war einer der letzten großen Tempelbauten Siziliens. Daß bei
dem um 425 v. Chr. begonnenen Tempelbau wichtige Teile fehlen und er
unvollendet blieb, hat zu mannigfachen Spekulationen Anlaß gegeben.
Ein Stück weiter oben, am Rand des 431 m hohen Monte Barbaro, öffnet
sich der Halbkreis des Theaters. Von den zwanzig erhaltenen Sitzreihen
bietet sich ein grandioser Blick über eine weite, fruchtbare Hügellandschaft
bis hinunter zum Golfo di Castellamare, der allerdings durch eine protzige
Autobahnführung getrübt wird.“
Also, noch nicht mal fertig gebaut – und dann noch ein verschandelter
Ausblick. Dafür Geld bezahlen, um in einem steten Strom anderer Touristen
in der Hitze (ohne Frühstück) bergaufzustiefeln – wir passen! Zudem
haben wir ja noch den Trost, diese Anlage – und zwar völlig ohne Touristengedränge
– in bester Filmqualität bereits zu Hause gespeichert zu haben. Tja,
die Kulturfime der III. Programme sind doch toll! Und Goethe soll sich
über diesen Tempel auch nicht so ganz positiv geäußert haben! Die Argumente
für einen Ausfall des geplanten Besuchs sind also voll und ganz auf
unserer Seite.
Marianne kraxelt zwar noch ein paar Meter hinauf und macht anstandshalber
ein leicht verwackelte Zoom-Aufnahme – das war`s dann aber auch schon
mit Segesta. Hoffentlich haben wir demnächst in Gibellina nicht das
gleiche Gedränge! Dafür machen wir von Weitem noch ein schön „komponiertes“
Foto mit dem 200er-Tele: die Tempelfassade; gesehen durch das y-förmige
Geäst eines Baumes. Leider ist bei diesem Foto gerade der Film zu Ende;
wir werden erst zu Hause erfahren, ob das Foto etwas geworden ist.
Nun folgt eine schöne Abfahrt hinab ins Tal, wo wir an der Stazione
di Calatafimi wieder auf die SS 113 stoßen. Ihr folgen wir nun ein Stück
in Gegenrichtung, ehe wir uns an den mühseligen Aufstieg zum Städtchen
Calatafimi machen. Zwei Pfeile auf der Karte symbolisieren unmißverständlich
den Aufstieg! Zum Glück ist die Strecke aber nicht lang; nach etwa zwei
Kilometern erreichen wir das Zentrum und können in einem Geschäft endlich
unsere Frühstücksutensilien einkaufen. Auch ein Besuch am Bancomat ist
mal wieder dringend notwendig.
Auf der Suche nach dem gewohnten Park geraten wir immer tiefer ins Labyrinth
der Sträßchen und Gassen. Da die meisten naturgemäß nur als Einbahnstraße
zu befahren sind, kreuzen wir mit unseren Rädern langsam hin und her;
beobachtet von vielen erstaunten Calatafimesen.
Frühstück; besser gesagt: Mittagessen, gibt es nun um 13 Uhr vor einer
kleinen Chiesa auf dem Kirchvorplatz. Im Alimentari hat uns der Hunger
zum Kauf von vielerlei Köstlichkeiten inspiriert. Und so beginnen wir
mit der feierlichen Zubereitung von Paninis mit Mortadella, Schinken
und Käse; dazu Salami. Pikante Oliven kommen dazwischen; garniert wird
das Ganze mit Tomatenscheiben und Mozarella. Und über all das wird dann
eine dicke Schicht Majonaise gebreitet. Es sieht lecker aus und schmeckt
auch so – Schwierigkeiten bereitet allerdings die Frage, wie man das
alles in den Mund bekommt, ohne allzuviel fallen zu lassen. Besonders
Sarah muß mit ihrem gleich doppelt belegten Panini arg kämpfen und muß
dazu auch noch den Spott der Anderen ertragen (ein neuer Spitzname für
sie setzt sich dabei durch....)
Egal – wir sind für die weiteren Anstrengungen dieses Tages nun gerüstet!
Es bleibt die Frage, welche Strecke wir nun nach Gibellina nehmen wollen.
Die Karte zeigt eine (längere) Hauptstraße; dazu zwei winzige Nebenstraßen.
Eine der beiden Nebenstraßen weist allein 5 Pfeile auf – die ist schon
mal gestrichen!
Kurz vor unserem Frühstücksplatz haben wir an einem Haus ein Schild
der örtlichen Carabinieri gesehen. Die haben uns ja schon mal in Trapani
weitergeholfen – also gehen Jan und Martin hin und fragen sich zum richti
gen Büro durch. Zuletzt landen sie im Büro des örtlichen „Commandante“,
dem sie endlich ihre Fragen stellen können.
Aber der will natürlich zuerst einmal die ganze Tour-Geschichte hören
und zeigt sich danach sehr zufrieden, daß deutsche Pfadfinder seine
Heimatinsel auf diese Art bereisen.
Der Commandante gibt uns auch den guten Rat, bloß nicht die kleinen,
gelben Straßenverbindungen nach Gibellina zu wählen - wir sollen statt
dessen lieber auf der Hauptstraße 188 bleiben und über Salemi fahren.
Mit diesen Informationen werden wir freundlich verabschiedet - man wird
sicher noch lange von uns verrückten Deutschen sprechen, die so völlig
abseits aller Touristenwege hier mit dem Fahrrad aufgekreuzt sind.
Inzwischen haben die anderen schon mal die Frühstücksutensilien in den
Satteltaschen verstaut. Nach einer letzten Runde durch die Altstadt
müssen wir leider wieder hinunter zur Hauptstraße. So etwa bei 280 Höhenmetern
erreichen wir den Abzweig der 113 nach Trapani; wir biegen jetzt in
Richtung Salemi und Gibellina geradewegs nach Süden ab. Salemi liegt
auf 440 m Höhe; dazu weisen auch noch einige Pfeile auf der Straße unmißverständlich
auf das uns nun Bevorstehende hin!
Wir beschließen kurz hinter der Abzweigung, daß bei dieser Mittagshitze
erst einmal eine längere Siesta angenehm wäre. Wir sitzen im Schatten
unter einem Baum und ruhen genüßlich aus. Hinter uns auf dem Feld hackt
ein Bauer mitten in der prallen Mittagssonne unverdrossen zwischen seinen
Pflanzen herum. Martin nutzt die Zeit zur Reparatur seiner Vorderradtasche
mit Nadel und Faden. Marianne folgt dem kleinen Bächlein und entdeckt
sogar einen richtigen Wasserfall! Die Mädchen nutzen das zuerst für
ein ausgedehntes Badevergnügen; anschließend machen sich die Herren
den Wasserfall als Ganzkörperdusche zu Nutze. Brrr - doch leider etwas
sehr frisch, so im Adamskostüm mitten im Bach zu stehen und sich von
oben das Wasser auf die heiße Haut prasseln zu lassen. Andererseits
- wann werden wir wieder so eine bequeme Dusche finden?
Danach fällt der weitere Anstieg etwas leichter - außerdem wird immer
wieder mal geschoben. Kurz darauf ist der kleine Ort Vita erreicht -
allerdings macht er seinem Namen "Leben" keine Ehre - er wirkt wie ausgestorben
(na ja, es ist halt früher Nachmittag); und dummerweise gibt es auch
keine Kneipe oder offenen Alimentari. Dafür zeigt uns ein Blick auf
die Karte, daß man ab hier doch noch eine Abkürzung nach Gibellina nehmen
könnte. Ein Mann weist uns mit einem Mofa den richtigen Weg zur Nebenstraße.
Und die hat es nun wirklich in sich: kurz nach dem Dorf stehen wir am
oberen Rand eines Steilabhangs und sehen hinunter auf eine weite Ebene.
Die weitere Routenführung ist mit ihren vielen Serpentinen gut zu sehen.
Das gibt eine Abfahrt! Martin setzt vorsichtshalber sogar den Helm auf
und muß sich dafür von Jan auf dem Videoband als "Lord Helmchen" titulieren
lassen. Und Jan zeigt bei der nun folgenden, rasanten Talfahrt, was
er inzwischen als Kameramann so drauf hat!
Genüßlich lassen wir uns dann die letzten hundert Meter ausrollen, ehe
wir wieder selbst in die Pedalen treten müssen. Und dann erreichen wir
auch schon die Außenbezirke von Gibellina Nuova. "Nuova" deshalb, weil
das alte Gibellina vor über dreißig Jahren einem verheerenden Erdbeben
zum Opfer gefallen ist. Und dieses neue Städtchen erinnert auf Schritt
und Tritt daran - überall beeindruckende Skulpturen - geschaffen von
Künstlern aus aller Welt, die mit ihren Arbeiten ihre Betroffenheit
und Solidarität mit den Bewohnern ausdrücken wollten.
"Die Weltöffentlichkeit richtete in den letzten Jahrzehnten nur einmal
die Aufmerksamkeit auf den Westen Siziliens: am 15. Januar 1968 zerstörte
ein schweres Erdbeben mehrere Dörfer im Belice-Tal. Auch Gibellina,
vormals ein kleines beschauliches Bergdorf, wurde in Schutt und Asche
gelegt. Die Bewohner mußten jahrelang vergeblich auf öffentliche Hilfe
hoffen, denn Hilfsgelder in Höhe von zwei Milliarden Mark verschwanden
spurlos in dunklen Kanälen.
Erst nach Jahren konnten sie rund 15 Kilometer weiter westlich in eine
neue, von den Architekten sehr rational geplante Stadt - Gibellina Nuova
- ziehen. Zahlreiche Künstler spendeten moderne Skulpturen, die das
Stadtbild bereichern."
Und diese Skulpturen schauen wir uns nun in Ruhe an. Da gibt es merkwürdige
Stahlgebilde (schon stark verrostet) oder auch jede Menge farbige Kunstwerke.
Dazu eine runde Kuppelkirche mit farbigen Zusatzelementen. Alles in
allem eine merkwürdig wirkende Stadt. Sarah und Svenja nutzen die Skulpturen
als Klettergerüst und werden von Martin auf den Hintergrund ihrer Entstehung
und ihrer Bedeutung hingewiesen.
Inzwischen hat die nachmittägliche Hitze weiter nachgelassen und auch
die Lebensmittelgeschäfte haben wieder geöffnet. Zeit für eine letzte
Zwischenrast vor der Suche nach dem Lagerplatz für die kommende Nacht.
Wir kaufen in einem kleinen Alimentari am Ortsrand ein - vorwiegend
Getränke - und machen es uns der Einfachheit halber gleich draußen vor
dem Geschäft bequem.
Sarah findet derweil eine Telefonzelle und versucht, nach Deutschland
durchzukommen. Inzwischen geht es auf sechs Uhr zu; Zeit, sich wieder
auf den Weg zu machen. Ein Blick auf die Karte zeigt dabei deutlich
das nun anstehende Problem: der nächste Ort heißt Santa Ninfa und ist
ab Ortsausfahrt Gibellina nur 4,5 Kilometer entfernt. Den könnten wir
ja noch problemlos durchfahren; "könnten", wenn die Karte bis dahin
nicht sage und schreibe 5 Steigungspfeile nacheinander auf der Verbindungsstraße
anzeigen würde. Das heißt für uns nun im Klartext: der Lagerplatz muß
irgendwo zwischen Gibellina und Ninfa liegen. Und natürlich nicht allzu
dicht an einem der beiden Orte (damit wir nachts keinen störenden Besuch
jugendlicher Rollerfahrer bekommen). Uns ist klar, daß wir bei der knappen
Entfernung zwischen den beiden Orten da keine große Auswahl zu erwarten
haben.
Direkt am Ortsausgang von Gibellina Nuova treffen wir auch prompt auf
den ersten "Straßenpfeil"; im ersten Gang quälen wir uns mit unseren
nach der Rast doch deutlich müden Beinen die ersten ein, zwei Serpentinen
hinauf. Und schon zeigt sich in einer Rechtskurve ein mögliches Plätzchen
für die Nacht: erst eine Wiese; dahinter ein kleines Wäldchen; dazu
noch schön eben gelegen. Nachteil der Geschichte: den Zufahrtsweg versperrt
ein solides Eisentor. Direkt daneben führt aber ein offener Weg zu einem
etwas weiter entfernt liegenden Gehöft. Wir sind uns schnell einig,
daß wir in dieser Situation hier besser beim Besitzer nachfragen sollten.
Und so rollen wir zum Bauernhof hin und werden freudig von einigen kläffenden
Kötern umringt. Zum Glück ruft dieses Gebell auch schnell einen Menschen
herbei - ein freundlicher, junger Bursche, dem es Sarah auf den ersten
Blick wohl sehr angetan hat!
Moncef Sghaier (wir sprechen den Namen schnell wie "Geier" aus) heißt
er und ist zwar nicht der Besitzer des Hofes, sondern nur ein Angestellter;
er meint aber, sein "Padrone" hätte bestimmt nichts gegen eine Übernachtung
im Wäldchen einzuwenden.
Wir begleiten ihn erst zu Fuß hoch zum Wäldchen und inspizieren den
Lagerplatz. Er ist wirklich überraschend eben, wenngleich auch einige
Steine den Boden zieren. Aber die lassen sich ja schließlich wegräumen.
Dann holen wir unsere Räder und machen uns an den gewohnten Aufbau.
Moncef, der so was wohl noch nie miterlebt hat, will sich überall nützlich
machen, hindert aber eher beim Aufbau. Nach so vielen Fahrttagen ist
bei uns eben schon der abendliche Aufbau zur Routine geworden, bei dem
jeder Handgriff sitzt.
Zwischendurch übt sich Martin mit Moncef in italienischer Konversation.
Dies erweist sich als schwieriger als normal, da Moncef gar kein Sizilianer
ist! Er stammt aus Tunesien und arbeitet hier auf dem Bauernhof - wie
wir ihn verstehen - als illegale, billige Arbeitskraft.
Nach dem Aufbau beschäftigen wir uns mit der Zubereitung des Abendessens.
Heute steht mal wieder Linsensuppe mit Speck und vorher angerösteten
Wurstwürfeln auf dem Menue-Plan. Dazu gibt es Brot, was am Schluß die
Mühe des Tellerspülens erübrigt. Und da sich Moncef weiterhin bei uns
aufhält (na ja, eher in der Nähe unserer jungen Damen), laden wir ihn
natürlich zum Essen ein. Martin muß dafür seinen Teller abtreten und
hinterher von Mariannes Teller essen; Sarah opfert (?) ihren Löffel.
So ganz scheint unser deutsches Gericht dem Tunesier aber nicht zu schmecken;
er verzichtet jedenfalls eilig auf den angebotenen Nachschlag. Nun,
wir haben damit keine Probleme; nach einer wiederum ziemlich anstrengenden
Tagesetappe sind wir froh über die abendliche, warme Mahlzeit. Dann
noch ein kurzer Umtrunk mit unseren Rotweinvorräten, danach sind wir
bald im Zelt verschwunden.
Tageswerte: 46,63 Km; 4:30 Stunden im Sattel; Durchschnitt immerhin
noch 10,33 Km/h; Gesamthöhenmeter bergauf: 4964 m (heute also 960m !);
bergab 4514 m
Mittwoch, 8.4.98, 12. Tag
Das Wäldchen entpuppt sich so ab 5 Uhr in der Früh als beliebter Vogeltreffpunkt.
Und dies bringt uns doch leider schnell um die wohlverdiente Ruhe und
letztlich sehr früh auf die Beine! Und so springen wir schon ums Zelt
herum, als die ersten Strahlen der Morgensonne schräg durch das Wäldchen
fluten.
Auch Moncef ist natürlich schon bald wieder da und hilft beim Abbau
(Hier trennen wir uns Dank Christoph von 2 Stangen). Als die Räder beladen
sind, lädt er uns zur Besichtigung des Hofes ein. Lieber würden wir
ja nun nach S. Ninfa zum Frühstück fahren, aber natürlich können wir
Moncef seinen Wunsch nicht abschlagen.
Stolz führt er uns durch den Bauernhof, der anscheinend ganz auf Viehzucht
eingestellt ist. Beim Schweinepferch treffen wir auf ordentlich fette
Säue, die neugierig an unseren Händen schnuppern. Moncefs ganzer Stolz
ist aber ein prachtvoller Bulle, der sicherheitshalber an der Stallwand
angekettet ist. Moncef führt uns noch schnell seine Vorstellung von
einem Torero vor, dann verabschieden wir uns von ihm und machen uns
auf den wenn auch kurzen, so doch steilen Anstieg nach S. Ninfa.
Auf diesen ersten 200 Höhenmetern des noch frühen Tages ereilt Christoph
nun allerdings urplötzlich das Schicksal: er bleibt plötzlich stehen
und beschäftigt sich mit seinen Pedalen; als wir zurückfahren, um nachzuschauen
was los ist, müssen wir leider feststellen, daß sich diese Pedalen in
keiner Weise mehr drehen lassen - weder vor- noch rückwärts! Dies gibt
uns nun doch ein Rätsel auf! Äußerlich ist am Rad kein Schaden zu erkennen;
die Kette ist nicht abgesprungen oder eventuell in den Zahnrädern verklemmt
- nichts zu sehen, was auf einen Defekt hindeuten könnte. Unsere Diagnose
läßt nur zwei Möglichkeiten zu: entweder ist das Tretlager hin oder
die Nabenschaltung. Auf jeden Fall blockiert irgendetwas gewaltig!
Nach kurzer Diskussion fahren Martin und Jan vor, um im nahegelegenen
Ninfa nach einer Werkstatt Ausschau zu halten. Die anderen kommen langsam
nach; Christoph zwangsläufig schiebend. Und die beiden werden tatsächlich
fündig: nette Sizilianer beschreiben ihnen den Weg zu einer Fahrradreparaturwerkstatt.
Hierher lotsen sie den Rest der Gruppe. Und nun sind alle gespannt auf
die Fähigkeiten des Monteurs. Allen ist klar, daß hier in Santa Ninfa
eventuell das Ende der Radtour sein könnte.
Aber der Mechaniker geht zuversichtlich und zielstrebig an die Arbeit.
Und davon versteht er wirklich was! Das Hinterrad wird in einem Schraubstock
eingespannt und dann mit ein paar wohlgezielten Schlägen der Zahnkranz
gelöst. Unser Mann schein sicher zu sein, daß hier, ganz tief im Innern
der Nabe, das Problem liegen muß. Er demonstriert uns, daß das Tretlager
sich wieder frei bewegen läßt.
Immer tiefer geht es in die "Eingeweide" der Nabe hinein - Sprengringe,
von deren Existenz wir keine Ahnung hatten, werden fachmännisch gelöst.
Und dann liegt das ganze Wunderwerk der Dreigangtechnik vor uns: winzige
Zahnräder und Planetengetriebe sind das Herzstück der an und für sich
ausgereiften Technik von Fichtel&Sachs. Zielstrebig fischt der Monteur
nun die Bruchstücke eines zerbrochenen Zahnrades aus diesen Innereien
heraus. Wir sehen unsere Felle davonschwimmen, als er auf unsere Frage,
ob man so etwas reparieren kann, zwar zustimmt, gleichzeitig aber erklärt,
daß er ein solches Ersatzteil für diese deutsche Technik nicht hat.
Überraschenderweise hat er aber eine einfache Lösung für uns parat (nur
nicht für Christoph), die uns eine Weiterfahrt ermöglichen wird: er
legt die gesamte Dreigangschaltung still; sozusagen auf Freilauf. Christoph
muß ab jetzt mit seinen zusätzlichen Gängen der Zahnradschaltung auskommen.
Für seine Arbeit will unser rettender Engel kaum etwas haben; wir bedanken
uns artig und suchen nun doch inzwischen sehr hungrig nach einem späten
Frühstück! Fündig werden wir nach einem Marktbummel an einem Supermarkt,
wo wir uns mit Paninis, Burro, Mortadella & Co ausgiebig eindecken.
So gestärkt kann es nun an die eigentliche Tagesetappe gehen. Zunächst
einmal interessiert uns nun doch, wie es im zerstörten "Gibellina Vecchia"
aussieht. Die Abzweigung von der SS 119 ist schnell gefunden.
"Landschaftlich ansprechend ist die Straße, die zum alten, zerstörten
Gibellina führt. Ein Teil der Ruinen (Ruderi di Gibellina) wurde von
dem Bildhauer Alberto Burri in ein Kunstwerk verwandelt. Burri überzog
die Ruinenlandschaft mit Beton, der weiß angestrichen wurde, und schuf
so ein überdimensionales Denkmal, das durch seinen surrealen Charakter
besticht."
Nach dieser Beschreibung im Reiseführer wollen wir das jetzt mit eigenen
Augen sehen - zumal das "Terremoto" in Umbrien gerade mal ein halbes
Jahr zurückliegt.
Laut Karte sind das bis dahin etwa 12 Kilometer. Die Sonne brennt inzwischen
schon wieder heiß vom blauen Himmel; Zeit, die T-Shirts auszuziehen
und den Oberkörper vom warmen Fahrtwind umwehen zu lassen. Die Fahrtstrecke
ist wirklich schön; der grüne Streifen auf der Straßenkarte ist wirklich
nicht übertrieben. Von irgendwelchen Erdbebenschäden ist weit und breit
nichts zu sehen. Wie ein solches Erdbeben allerdings zuschlagen kann,
werden wir erst im Herbst bei Franco näher kennenlernen, wenn wir dort
zu unserem "Marcia di solidarietà per l`Umbria" eintreffen und die zerstörten
umbrischen Dörfer sehen. Noch radeln wir jetzt hier in Sizilien durch
eine sonnenüberflutete Landschaft. Die Straße verläuft weitgehend eben
und zieht sich an den sanften Abhängen entlang.
Dann, nach einer Kurve, die ersten Hinweise auf das Erdbeben. Obwohl
schon 30 Jahre zurückliegend, befinden sich umgestürzte Telefon- und
Hochspannungsmasten noch so vor uns in der Landschaft, wie sie vor Jahren
"entwurzelt" wurden.
Neben der Straße tauchen geteerte Terrassen auf; schon weitgehend zugewuchert.
Auch hier, an Beton- und Steinmauern, unübersehbare Spuren der Erdgewalten.
Und dann, nach einer weiteren Kurve, der schockierende Anblick der "Ruderi
di Gibellina"!
Da unsere Straße noch oberhalb der ehemaligen Ortschaft verläuft, haben
wir einen guten Blick hinunter auf das Kunstwerk von Alberto Burri:
von weitem sieht es aus wie ein großes, weißes Tuch, das über ein Stück
des Berghanges gebreitet worden ist.
Bevor wir aber näher heranfahren, folgen wir den Hinweisen auf der Straße
und fahren zu einem Mahnmal, das an das Erdbeben und das Leid der Bewohner
erinnert. Eine große Skulptur, aus porösem Gestein gemeißelt, steht
auf einem Fundament, das seinerseits in sich gespalten ist und die Zerrissenheit
der Erde widerspiegelt. Auch hier nagt der Zahn der Zeit unübersehbar:
überall sprießt hohes Unkraut aus dem Boden. Die Natur ist dabei, langsam
aber sicher wieder ihren Teil zurückzuholen. Das hier einzig zu hörende
Geräusch stammt vom heftigen Wind, der über den Hügelkamm fegt. Und
leider bringt dieser Wind auch Martins Rad zum Wanken und schließlich
zum Sturz, als er gerade das Mahnmal fotografiert.
Jetzt wollen wir aber das weiße Beton-Monument erkunden. Die ersten
sind schon vorgefahren und haben schnell eine Einfahrt in das Labyrinth
entdeckt. Jetzt, aus der Nähe, sieht man erst, daß die weiße Betonfläche
durch einzelne Wege in viele Teilbereiche gegliedert ist. Diese Wege
führen bergauf, bergab mit vielen Biegungen und Kreuzungen durch das
Monument hindurch. Sie sind den ehemaligen Sträßchen und Gassen des
Dorfes nachempfunden. Die restlichen Trümmer wurden bis zu einer Höhe
von etwa 1,50 m mit Beton überzogen und danach weiß angestrichen. Obwohl
diese weiße Farbe aus der Nähe betrachtet dringend eine Auffrischung
nötig hätte, schmerzt die Reflexion der Sonne doch immer noch gewaltig
in den Augen. Aber nicht nur die Farbe hat gelitten, sondern auch der
Beton: überall sind Risse und Löcher zu sehen, die von Pflanzen und
vor allem von Geckos gern als Unterschlupf genutzt werden.
Wir kreuzen mit unseren Rädern durch dieses merkwürdige Gebilde und
spielen ein wenig Fangen. Danach ziehen wir uns zur Mittagsrast zurück
in den Schatten eines noch halbwegs stehengebliebenen Hauses und öffnen
ein, zwei Fläschchen Rotwein. Dazu gibt es Brot aus S. Ninfa.
Zwischendurch noch einmal ein Rundgang durch Gibellina Vecchia und eine
Besichtigung des kleinen Amphitheaters am unteren Dorfende. Schräg gegenüber
unserem Rastplatz stehen noch Restwände eines Hauses, in dem noch die
Fliesen des Badezimmers zu sehen sind.
Nach einer ausgiebigen Mittagspause (so ca. 2 Stunden) steigen wir wieder
in den Sattel und machen uns mit einem letzten Blick auf das doch sehr
beklemmend wirkende Monument auf den Weiterweg. Und da Gibellina Vecchia
bereits auf 400 m Höhe lag, genießen wir jetzt eine langgezogene Abfahrt.
Und wie es der Zufall so will, geraten wir dabei an einen alten Brunnentrog
neben der Straße mit leise vor sich hin plätscherndem Wasser. Dies ist
nun nach unserer bisherigen Erfahrung ein seltener Glücksfall auf Sizilien.
Schnell sind wir uns einig, daß trotz der nur kurz geraten Wegstrecke
seit Gibellina hier eine weitere Pause fällig ist - diesmal nicht für
eine Erfrischung von innen her sondern für eine ausgiebige Waschpause.
Dieses Waschen beginnt zunächst ganz harmlos mit Gesicht, Händen und
Armen. Danach sind die Haare dran, wobei wir darauf achten, daß kein
Schaum in den Trog gerät. Unsere Thermobecher müssen mal wieder als
"Gießkanne" herhalten. So nach und nach entwickelt dieses Waschfest
dann aber seine eigene Dynamik! Waren die ersten Spritzer auf den Nachbarn
vielleicht noch Zufall, so artet das Ganze nun doch ziemlich schnell
in eine Wasserschlacht erster Güte aus! Vor allem Sarah und Jan sind
dabei die Vorreiter (oder besser gesagt: Taucher). Denn als sie schon
ziemlich naß sind, beschließen sie, ein Ganzkörperbad zu nehmen; praktischerweise
gleich mit kompletter Kleidung, die dabei nebenher so auch gewaschen
wird. Höhepunkt dabei ist das Eintauchen bis zum Hals in das Wasser
des Brunnenbeckens. Neben der doch recht starken Abkühlung kostet das
zusätzliche Überwindung beim Ignorieren der vielen Algen, die sich im
Brunnentrog gebildet haben. Danach werden die gerade noch als Wasserkrüge
zweckentfremdeten Thermobecher für einen kurzen Umtrunk auf diese überraschende
Bademöglichkeit genutzt. Salute! Die Kleidung trocknet derweilen schon
wieder am Körper.
Beschwingt (im doppelten Sinne) geht es nun die kurvige Strecke weiter
bergab; zunächst durch eine weitere völlig zerstörte Ortschaft namens
Salparuta Vecchia (hier liegen die Ruinen noch so, wie das Erdbeben
sie vor dreißig Jahren zerstört hat) hinunter nach Poggioreale.
Hier treffen wir am Ortseingang auf eine geöffnete Cafeteria. Zeit für
ein leckeres Hörnchen. Ein perfekt schwäbisch sprechender Mann hinter
der Theke bringt uns Tisch und Stühle nach draußen; er hat lange Zeit
in Deutschland gearbeitet und ist nun wieder hier als Pizzabäcker gelandet.
Er setzt sich zwischendurch zu uns und diskutiert mit uns über Gott
und die Welt; insbesondere aber äußert er vehement seine Meinung über
den derzeitigen Papst. Von ihm erfahren wir eine Menge über die hiesige
Region; da es jetzt keine Verständigungsschwierigkeiten gibt, können
wir ihm alle möglichen Fragen stellen, vor allem natürlich im Zusammenhang
mit dem Erdbeben und seinen Folgen. Der Pizzabäcker klärt uns auch darüber
auf, daß diese Poggioreale nach dem Terremoto an dieser Stelle neu gegründet
worden ist. Daher auch die vielen neuen Häuser und die neuen Gärten
links und rechts neben der Straße, die derzeit überall künstlich bewässert
werden. Diese Bewässerungsanlagen waren uns schon bei der Einfahrt nach
Poggioreale aufgefallen. Wir dagegen erzählen von unserer Tour und unseren
Erlebnissen und erhalten ganz nebenbei wichtige Informationen für die
weitere Strecke, die uns nun wieder nordwärts in Richtung Palermo führen
wird. Nach ausgiebiger Rast verabschieden wir uns von unserem neuen
Bekannten, kaufen noch schnell im inzwischen wieder geöffneten Alimentari
für das Abendessen ein und machen uns dann erneut auf. Einige Kilometer
wollen wir heute noch nach Norden schaffen. An diesem Punkt sind wir
nun gerade mal so etwa 20 Kilometer von Menfi entfernt, wo wir noch
vor vier Tagen, am Samstag, gefrühstückt haben. In der Zwischenzeit
haben wir eine riesige Schleife rund um Westsizilien gefahren.
Die Straße in Richtung Palermo ist nun auch wesentlich verkehrsreicher;
allerdings können wir einen breiten Seitenstreifen benutzen. Nach etwa
10 Kilometern taucht auf der linken Seite eine Feldwegeinfahrt auf,
die auf die darüberliegenden Felder führt. Diese Einfahrt wird von uns
zu Fuß schnell nach mehreren Seiten erkundet - schnell herrscht Einigkeit
darüber, daß wir hier über Nacht bleiben werden. Das Hochschieben der
schweren Räder über einen unebenen Hang ist zwar mühselig; oben kommen
wir dafür auf eine einsame Hochebene, die von unten, von der Straße
her, nicht eingesehen werden kann. Alles in allem ein schönes Freicamper-Plätzchen,
das eine ungestörte Nachtruhe garantiert (Na ja, die vielen Disteln
trüben ein wenig die Freude am ebenen Lagerplatz).
Nachdem die Zelte hochgezogen sind, machen wir uns an die Zubereitung
eines gewaltigen Abendschmauses: 1,5 Kilogramm Tortellini bringen den
Topf zum Überquellen; dazu gibt es Sauce "Napoli" und jede Menge frischen
Parmigiano. Man muß es wirklich deutlich aussprechen: an diesem Abend
überfressen sich alle. Ein abendlicher Verdauungsspaziergang durch das
hinter uns liegende Hügelland ist die logische Folge.
Tageswerte: 38,54 Km (trotz der vielen Pausen); 3:13 Stunden im Sattel
mit einem Schnitt von 11,94 Km/h; Max 54,3 (!); Gesamthöhenmeter bergauf
inzwischen 5546 m; bergab 5138 m
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