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Umbrien, Herbst 2000

An Stelle eines Vorwortes

Buon giorno, Italia, wir sind unterwegs zu Euch nach Umbrien. Aber was heißt hier "Italia"? Es gibt schließlich "cento Italie", auf deutsch "hundert Italien". Das sagen Italiener gern einem Fremden, wenn sie ihm klarmachen wollen, daß ihr Land zwar ganz typische Gegenden hat und dazu auch die passenden Menschen - dies jedoch nicht verallgemeinert werden darf als "typisch italienisch".

Toscana, Kalabrien, Abruzzen, Sizilien - Namen, die wir sicher schon einmal gehört haben und die wir irgendwie "Italien" zuordnen. Gleichzeitig aber Landschaften und Menschen, die voneinander doch sehr verschieden sind.

Wir Pfadfinder vom Stamm Wenholthausen haben uns in diesem Herbst wieder zu einer Fahrt nach Umbrien, dem "grünen Herzen Italiens", entschlossen. Wir wollen aber in ein Umbrien, das abseits des Touristengedränges rund um das Städtchen Assisi liegt; mitten hinein in das rauhe Bergland des Apennins mit Gipfeln bis auf 2400 m Höhe. Zielort ist das winzige Dörfchen Colle mit nur knapp über 200 Einwohnern. Dennoch ein Dorf, zu dem wir inzwischen als sauerländische Pfadfinder eine intensive Verbindung haben. Um dies als Neuling, der zum ersten Mal nun mitfährt, zu verstehen, muß man die Entwicklung bis dahin kennen:

Es begann 1990 mit dem großen Diözesantreffen aller Leiter in Umbrien. Von den über 200 Teilnehmern waren 14 aus unserem Stamm mit dabei - und der Start zu diesem Abenteuer war genau in diesem kleinen Dorf Colle, einem Nebenort der Gemeinde Nocera Umbra, etwa 30 Kilometer östlich von Assisi. Diese Gegend gefiel uns so gut, daß wir 1991 schon wieder im Herbst hinfuhren, um mit einer achtköpfigen Gruppe von Colle nach Assisi zu wandern. 1992 fand im Sommer dann ein erstes zehntägiges Jufilager unseres Stammes in Assisi statt; im Sommer, und dementsprechend tierisch heiß! 1993, 1994 und 1995 kamen wir jeweils im Herbst wieder; diesmal verlagerte sich das Programm schon deutlich weg von Assisi hin in das gebirgige Hinterland rund um Colle. Der europäische Fernwanderweg "E1" war das Ziel; oder klangvoller mit dem italienischen Namen "Grande Escursione Apenninica (GEA), Tratto Umbro". Vom Monte Cucco bis hin zum Endpunkt in Castelluccio wanderten wir mit Rucksack und Zelt; immerhin eine Gesamtlänge von etwa 140 Kilometern!

Im Herbst 1996 dann das bislang größte Abenteuer in Umbrien: gleich zwei Trupps machen sich auf nach Italien: die Jufis bleiben in Assisi; die Pfadfinder sind viel mit Rucksack und Zelt im Hinterland unterwegs. Höhepunkte dabei sind sicher die Höhlenexkursion am Monte Cucco und die Sturmübernachtung auf dem Gipfel des Monte Subasio.

Und dann sehen wir am 26. September 1997 die erschreckenden Bilder über das "Terremoto", das Erdbeben in Umbrien, in unseren Fernsehnachrichten. Wir beschließen spontan eine Hilfsaktion. Verwirklicht wird sie schließlich nach einjähriger Vorbereitungszeit im Oktober 1998. Mit 15 Pfadfindern reisen wir zu Franco nach Colle. Schon ab Assisi sehen wir überall vom Zug aus die verheerenden Zerstörungen. Unser Hilfsprojekt ist klar: wir wollen von Colle bis Castelluccio erneut auf Trekking-Tour gehen; mitten durch die zerstörte Region, deren Dörfer uns von den vorangegangenen Touren noch so gut in Erinnerung sind. Vorher haben wir uns Sponsoren gesucht, die uns für jeden gelaufenen Kilometer Geld spenden. Geld, das zu 100 Prozent in ein Projekt der "ProLoco" (Verkehrsverein) von Colle fließt. Stolz können wir nach 100 Laufkilometern einen Scheck über 5.000.000 Lira (über 5.000,-DM) überreichen.

Man sieht: Colle und das umbrische Hinterland ist für uns inzwischen mit vielen Erinnerungen verbunden. Die Teilnehmer:

Adrian Graß
Anna Büttner
Andree Schmidt
Benedikt Karrasch
Dominik Bönner, Florian "Flobe" Beste
Florian "Flobö" Böhmer
Janine Schlabach
Julia Graß
Lucas Limberg
Luisa Berghoff
Marianne Schmidt
Martin Kies
Michael Kaiser
Peter "Junior" Bartnik
Peter (senior) "Pietro Potente" Bartnik
Sabine Kaiser
Sebastian Bartnik
Stefan Elit
Svenja Kies
Thomas Elit


Freitag, 29.9.2000, 1.Tag

Während die meisten Teilnehmer noch in der Schule sind, macht sich das "Transport-Team" bereits um halb zwölf mit unserem Pfadfinder-Transit und Peters Anhänger auf den Weg. Gepackt wurde alles bereits am Vorabend; jetzt müssen die beiden Fahrer, Andree und Peter ("junior"), mit ihren beiden Assistenten, Sebastian und Florian ("Flobe"), nur noch ihre eigenen Rucksäcke einladen. Der Transit transportiert neben dem Zeltmaterial und der sonstigen Ausrüstung (Küche, Gasflaschen, Bänke usw.) auch eine Menge an Lebensmitteln. Dem jetzt noch vollbeladenen Anhänger ist für die Rückfahrt eine besondere Aufgabe zugedacht......

Von Anna, Friedhelm und Martin verabschiedet, geht es planmäßig los. Wir hoffen alle zuversichtlich, daß einer der beiden Fahrer den Rest der Gruppe am morgigen Samstag am Bahnhof von Nocera Umbra abholen wird.

Die eigentliche Gruppe trudelt so ab 15 Uhr auf dem Schulhof ein. Zu verpacken gibt`s ja nichts mehr - jeder trägt seinen Rucksack mit seinem eigenen Gepäck samt Reiseproviant. Damit ist durch das Gewicht schon mal vorgegeben, daß niemand zu viel Überflüssiges mitschleppt. Fast alle Jufis sind diesbezüglich aber schon "alte Hasen"; haben sie doch neben der letztjährigen Auslandsfahrt nach Sardinien schon manches Stammeslager und Jufi-Zeltlager mitgemacht; zuletzt knapp einen Monat zuvor, als wir auf einem Trainings-Wochenende rund um Wenholthausen unterwegs waren und schon mal austesten konnten, wie schwer ein vollbeladener Rucksack sein kann.

Im Beisein der Eltern gibt es vom Kuraten, Ludger Eilebrecht, den Reisesegen (praktischerweise verbunden mit einem Wettersegen). Aber was soll mit dem Wetter schon schiefgehen??? Schließlich geht es ja nach Italien, in den Süden. Und außerdem herrscht schon jetzt, hier bei uns in Deutschland, bei der Abfahrt bestes Frühherbstwetter. Und wenn`s in Umbrien dann bei gleichem blauen Himmel noch ein paar "Gradi" wärmer werden wird - umso besser! Zu diesem Zeitpunkt ist uns glücklicherweise noch nicht klar, wie weit man mit solch einer Prognose danebenliegen kann..... (Unser Kurat sollte das mit dem Wettersegen demnächst vielleicht auch noch ein wenig üben!)

Nach dem Reisesegen begleiten uns die Eltern noch bis zur Bushaltestelle - und dann hat für uns der Herbsturlaub begonnen! Wir sind unterwegs! Zunächst noch in sauerländischen Gefilden; per Bus über Grevenstein. In Freienohl kommen wir pünktlich in den Zug; in Hagen heißt es das erste Mal umsteigen. Für die Leiter der erste (kleine) Streß: hat jeder Jufi seine Gepäckteile aus dem letzten Zug mitgenommen; sind keine Jacken und dergleichen liegengeblieben, usw. Denn eines ist klar: wer jetzt unterwegs im Zug z.B. seine Regenjacke liegenläßt, könnte in Umbrien Probleme bekommen!

Das Transport-Team macht sich auf den Weg Erster Umsteige-Streß in Hagen

Aber - Kompliment an unsere Jufis! - es klappt alles wunderbar. Sogar die Disziplin beim Warten auf den Anschlußzug auf dem Bahnsteig in Hagen läßt sich sehen. Na ja, wir sind auch in Kluft unterwegs. Also ist allen klar, daß wir sozusagen "offiziell" als Pfadfinder fahren und ein dementsprechendes Bild in der Öffentlichkeit abgeben sollten.

Den ersten wird langsam auch klar, daß das Gepäck beim Umsteigen doch schon recht schwer sein kann. Zusätzlich hat ja jeder noch eine Provianttasche bei sich; in der Regel als "Day-Pack". So ein Ding paßt nun natürlich nicht mehr auf den Rücken - denn da sitzt ja schon der "große" Trekking-Rucksack. Es gibt also eigentlich nur zwei Alternativen, das Ding mit sich herumzuschleppen: entweder in einer Hand getragen (was einem schnell eine Schieflage einbringt) oder einfach vor den Bauch geschnallt (was einfacher zu tragen ist, einem dafür das Aussehen einer Schildkröte verleiht).

Bis Köln geht es nun etwas zügiger in einem auch etwas moderneren Zug weiter. In Köln dann ein letzter, fast zweistündiger Aufenthalt in Deutschland. Wir nutzen ihn zu einem Kurzausflug (natürlich samt Gepäck) zur Domplatte. Dort schwärmen Kleingruppen durch die nächtliche Kölner Innenstadt rund um den Dom; andere halten in einem kleinen Park derweil Gepäckwache.

Und schon stehen wir wieder auf dem Bahnsteig; unser Nachtzug läuft ein und der richtige Wagen hält exakt vor uns. Tempo ist nun beim Einsteigen angesagt; nicht leicht bei den sperrigen Rucksäcken mit den quergeschnallten Isomatten und dem doch recht schmalen Abteilgang in unserem Liegewagen. Wir haben drei komplette Abteile vorgebucht; die Einteilung haben wir natürlich vorher festgelegt; samt jedem zugeteilten Liegeplatz unten, in der Mitte oder oben. Für die meisten unserer Jufis ist das die erste große Fahrt mit dem Zug; zumindest in einem Liegewagen. Klar, einige Dinge muß man hier halt schon ohne Mama erledigen: Laken ausbreiten; Decken in Bettbezüge stecken. Das Einrichten klappt aber alles in allem recht zügig, und schon ab Bonn können wir uns der Aussicht entlang des nächtlichen Rheins widmen. Und trotz der Dunkelheit gibt es hier immer wieder noch was zu entdecken: mal beleuchtete Burgen, mal einzelne Schiffe auf dem Strom.

Und so langsam werden wir dabei nach all den Aufregungen des Tages dann doch müde und es senkt sich Ruhe über die einzelnen Abteile.


Samstag, 30.9.2000, 2.Tag

Das eintönige Rattern der Räder hat uns immer wieder in den Schlaf zurückgeschickt, obwohl die Nachtruhe doch immer mal durch Aufenthalte auf Bahnhöfen und das damit verbundene grelle Licht im Abteil etwas gestört worden ist. Aber jetzt sind wir munter, jetzt fahren wir schon seit geraumer Zeit durch Italien - und jetzt regnet es in Strömen. Wir reiben uns die Augen und können es kaum fassen: Dauerregen in Italien!! Und der bleibt uns auch treu, als wir in Florenz aus dem Zug steigen.

M&M übernehmen bereitwillig auf dem Bahnsteig die Gepäckwache; sie haben Florenz schon bei besserem Wetter durchstreift. Die Jufis haben aber nur diese einzige Chance: entweder Florenz heute - jetzt und mit Dauerregen - oder auf dieser Fahrt gar nicht mehr. Denn auf dem Rückweg werden wir hier keinen längeren Zwischenhalt haben. Also auf, nur in Kluft und ohne Regenjacken; die Florentiner mit ihren Regenschirmen sollten sich wirklich schämen! In Italien ist es warm; da scheint die Sonne usw. Das wird sie im Moment ja vielleicht auch; irgendwo, in einem der anderen "cento Italie", mag sein. Aber auf jeden Fall nicht hier und nicht jetzt!

Mit dem Zug geht es dann hinüber östlich über Arezzo und Terrontola; vorbei an Assisi, das unsere Jufis zum ersten Mal am Hang des Monte Subasio sehen, bis zum Endpunkt der Strecke, Foligno. Der Regen ist weiterhin unser treuer, wenn auch ungebetener Begleiter. In Foligno haben wir nochmals einen längeren Aufenthalt. Über Handy haben wir Kontakt zu den Transitfahrern; sie stehen inzwischen kurz vor Gubbio, also noch etwa 30 Ki-lometer bis Colle.

Als wir aber an der Bahnstation von Nocera Umbra aus dem Zug steigen, steht Andree zu unserer Erleichterung schon auf dem Bahnsteig. Der Anhänger ist samt Gepäck und den drei Mitfahrern in Colle geblieben; Andree schildert uns seine ersten Eindrücke von Francos Platz: kein Betrieb dort; wir werden ungestört sein, nur halt ein wenig naß! Das hätten wir uns angesichts des Wetters, das um uns herum niedergeht, aber auch selbst schon denken können.

In zwei Partien fahren wir die letzten Kilometer über die alte Via Flaminia bis nach Colle zu Francos Zeltplatz an der Villa della Cupa. Und hier bauen wir zuerst einmal unsere Zelte auf; Regen hin oder her. Die trockene Basis ist jetzt erst einmal das Wichtigste. Daher ist nach den Zelten auch das "Truppzentrum" dran. Es besteht aus einem alten Beduin-Überdach samt Gestänge und ist schnell aufgebaut. Trotz der leichten Bauweise eine wirklich stabile Sache gegen den weiterhin herabströmenden Regen. Nun gut, man darf nicht zu weit an den äußeren Rand kommen; Regenrinnen hat das Überdach nämlich keine.... Zusammen mit den mitgebrachten Bänken, den Metallkisten und einigen auf den Platz zusammengesuchten Plastikstühlen ergibt sich aber ein gemütliches (wenn auch etwas windiges) Lagerzentrum. Hier brodelt schon bald ein erstes warmes Essen auf dem Gasbrenner - bei diesem Wetter nicht zu verachten.

Bella Italia - Regen, Regen, Regen Gegen Regen hilft unser Überdach

Auf jeden Fall sind wir schon mal gut angekommen; alles ist gesund und munter und überraschenderweise trotz des unerwarteten Regenwetters guter Laune. Vielleicht ist es auch die Aussicht auf das weitere Programm zum Ausklang dieses Tages: natürlich werden wir heute Abend Franco noch einen Antrittsbesuch abstatten. Und welcher Ort wäre dazu besser geeignet als die alte "Cantina" in seiner Villa della Cupa?

Signore Rambotti; Professore an der Universität von Perugia, Besitzer der Villa della Cupa und des Hotels und Campinplatzes "Fontemaggio" in Assisi - uns seit langem einfach als "Franco" vertraut. Ein Mann, Ende 50, dem die Zusammenarbeit mit uns seit Jahren am Herzen liegt, einer, der sanften und ökologischen Tourismus schon seit Jahren propagiert.

Und bei ihm sitzen wir dann ab 19 Uhr; mitten zwischen den riesigen Weinfässern in einem urigen Kellergewölbe. Leider ist heute am Samstagabend hier natürlich eine ganze Menge los - Franco kann also nicht allzu viel Zeit bei uns verbringen. Wer noch Hunger hat, beteiligt sich an einer Sammelbestellung: Spaghetti Carbonara, grüner Salat. Und natürlich der extra für die Cantina hergestellte Wein. Der mundet auch wie immer in dieser Umgebung prächtig.....

Als den ersten Jufis am Tisch fast die Augen zufallen, ziehen wir uns nach und nach zurück auf den Campingplatz, um die erste Nacht in den Zelten zu verbringen.


Sonntag, 1.10.2000, 3.Tag

Nach einem etwas längeren Schlaf treffen wir uns am Sonntagmorgen nach und nach unter dem Vordach (denn es regnet immer noch). Frühstück gibt es aus dem Vorrat der mitgebrachten Lebensmittel; für morgen müssen wir unten im Alimentari von Colle erst einmal frische Brötchen bestellen.
Von Franco haben wir erfahren, daß so gegen 11 Uhr in der Containerkirche der Gottesdienst stattfinden soll. Das bieten wir unseren Jufis an - denn auch das sollte man gesehen haben: Colle, wie hier nach dem Erdbeben das alltägliche Leben weitergegangen ist.

Etwa gegen 10 Uhr werden also die Regenanzüge klargemacht. Dann machen wir uns auf zu einem ersten Rundgang durch das Dorf Colle. Für jemanden, der die Folgen eines Erdbebens nur aus dem Fernsehen kennt,

sind die ersten Eindrücke der abgestützten Häuser oder der teilweise immer noch vorhandenen Ruinen mitten im Ortskern sicher schockierend. Wir schlendern durch die Gassen und schauen uns die Schäden an den Häusern an. Allerdings ist auch zu erkennen, daß jetzt, drei Jahre nach dem Erdbeben, auch schon viele Häuser wieder saniert worden sind.

Auf dem kurz vor dem Beben neu gestalteten Dorfplatz von Colle legen wir eine kurze Pause ein; leider hat der Alimentari nicht geöffnet. So stehen wir im Regen unter einem gegenüberliegenden Vordach und beobachten das äußerst spärliche Dorfleben (das vorwiegend von vorbeihuschenden Katzen bestimmt wird). Dann machen wir uns durch die Gassen auf hinunter nach "Neu-Colle". Auf einem Platz unterhalb der alten Ortschaft hat man nach dem Erdbeben eine große Containersiedlung aus dem Boden gestampft. 1998 hatten wir Gelegenheit, einen dieser Kästen zu besichtigen.

Heute ist unser Ziel die etwas erhöht stehende Kirche, die aus 2 Containern zusammengebaut ist. Die Kirche wurde nach dem Erdbeben hier errichtet, da die eigentliche Dorfkirche (in der wir noch 1990 unseren Eröffnungsgottesdienst gefeiert hatten) im Ortszentrum wegen der vielen Risse in den Mauern nicht mehr zu nutzen ist. Während wir noch unschlüssig draußen stehen, fährt der alte Priester in seinem Fiat Panda vor. Auch ihn kennen wir schon von 1998 her. Er ist er etwas irritiert, als er uns sieht, aber dann zieht ein freundliches Lächeln über sein Gesicht: er hat uns wiedererkannt! Gestenreich werden wir hereingebeten.

So nach und nach trudeln die ersten Kirchgänger ein. Viel sind es nicht. Wir haben uns im hinteren Teil niedergelassen und können den Gottesdienst (bis auf die Predigt) an Hand des ausliegenden Faltblattes wortwörtlich mitverfolgen (je nachdem, wie schnell man das gehörte Italienisch mit dem Geschriebenen in Übereinstimmung bringen kann).

Draußen verabschieden wir uns von Don Giovanni, der sich später von uns einfach nur "Joe" nennen läßt. Dann stehen wir wieder allein auf weiter Flur; nur vom weiterhin treu herabfallenden Regen begleitet. Zeit also, an diesem Ort ein Regenopfer für Gott Güpi zu bringen. Und siehe da - nach kurzer Zeit läßt der Regen nach und wir können nach einem kurzen Umtrunk unter dem Kirchvordach (die dafür eigentlich auserkorene Container-Bar hat leider geschlossen) fast trockenen Fußes hinauf zum Lagerplatz. Diesmal wählen wir den Weg rechts herum und kommen so von unten herum an Francos Villa della Cupa vorbei.

Im Camp wird nun zu Mittag gekocht und gegessen; anschließend können sich die Jufis an das in den nächsten Wochen obligatorische Spülen gewöhnen. Die Leiter werfen derweil immer wieder sorgenvolle Blicke hinauf zum grauen Himmel. Irgendwann wollen wir ja mal mit unserem vorgesehenen Programm starten.

Und dieses Programm soll dort anknüpfen, wo wir vor zwei Jahren mit unserer Solidaritätsaktion aufgehört haben: kein Geld soll in diesem Jahr erarbeitet werden, sondern ein Projekt, mit dem die Freizeitaktivitäten rund um Colle herausgestellt werden sollen. Natürlich in deutscher Sprache. Und dieses Projekt ist gar nicht so utopisch, wie es sich vielleicht zunächst anhört! Colle bietet sich für deutsche Touristen, natürlich besonders für Jugendgruppen, als hervorragende Basis für Unternehmungen im Bergland an. Drachenfliegen, geführte Höhlenexkursionen und Canyoing am Monte Cucco; Trekking auf dem E1; Ausflüge in die mittelalterlichen Städte ringsum nach Gualdo Tadino, Gubbio, Spello und natürlich Assisi. Dazu der tolle und preiswerte Lagerplatz samt Ferienwohnungen und Hotel. Und dann noch die hervorragende umbrische Küche bei Franco - alles in allem ein Geheimtip!

Und zur Bekanntmachung dieses Angebots wollen wir künftig ein wenig beitragen. Ganz konkret in diesem Projekt durch die Erstellung eines Mini-Heftchens mit Wandermöglichkeiten rund um Colle und allen möglichen Tips rund um einen Aufenthalt in Colle. Und ein Zielpublikum dafür gibt es bereits. Von Franco wissen wir, daß bis zu 6 deutsche Reisegruppen der Firma "Studiosos-Reisen" hier wochenweise Station machen - und wer von denen will, soll demnächst mit unserem Heftchen auf eine nähere Erforschung von Colles Umgebung gehen können.

Dazu müssen wir aber natürlich die möglichen Routen erst einmal selbst kennenlernen; d.h. also selbst ablaufen, beschreiben, kartografieren. Unser Herbstaufenthalt soll dazu das "Rohmaterial" liefern. Nach der Kaffeepause stehen wir aber erst einmal unter dem etwas vorgezogenen Überdach des Toilettenhäuschens und warten sehnsüchtig auf das Ende des Regens. Weil der nicht so recht kommen will, machen wir aus der Not eine Tugend: wie wäre es - denken wir laut nach - wenn wir den Dauerregen als gute Gelegenheit für einen Praxistest unserer Regenausrüstung nutzen würden?? Sicher ist das besser hier in der Nähe des Basiscamps als später bei unserer dreitägigen Trekking-Tour über die Höhenzüge des Apennin. Denn auch das haben wir als einen Programmpunkt vorgesehen: unterwegs sein auf dem E1; vom Valsordatal bis zum Monte Cucco.

Containerkirche in Colle Waschhaus auf dem campingplatz von Colle Ausrüstungstest für unsere Regenkleidung

Man muß wirklich sagen, daß unsere Jufis dazu schnell motiviert sind! Warum sollten wir aber auch einen ganzen Tag im Lager vertrödeln? Eine Stunde später stehen wir marschfertig bereit: Regenjacke, Regenhose und festes Schuhwerk müssen jetzt ihre Feuertaufe (besser: Wassertaufe) bestehen.

Die Wegstrecke wird von M&M vorgegeben. Sie waren zuletzt im Sommer noch hier und kennen die Örtlichkeiten entsprechend. Zwei Stunden werden für diese erste Tour veranschlagt - danach wird jeder wissen, wie es um die Qualität der persönlichen Ausrüstung bestellt ist!

Der Weg führt uns zuerst hinein nach Colle; vor dem eigentlichen Zentrum aber geht es rechts hinauf zu einem weithin sichtbaren weißen Kreuz. Dieser markante Punkt wird auch künftig der Startpunkt unserer Wegbeschreibungen sein. Weiter zieht sich der Weg in ein tief eingeschnittenes Tal hinein - und der Regen nimmt, fast wie bestellt, an Intensität merklich zu.

Die leichteren Plastikjacken geben als erstes auf: durch nichtverschweißte Nähte sickern die ersten Tropfen auf Pullover und Sweatshirts. Danach sind bei einigen von uns die Schuhe dran. Aber auch edles Goretex zeigt bald seine Grenzen: man wird zwar nicht von oben naß; dafür aber von innen durch das Schwitzwasser, was bei der Anstrengung nicht schnell genug entweichen kann. Außerdem stimmt die zur Funktion notwendige Temperaturdifferenz nicht. Einhelliges Fazit am Ende dieser Teststrecke: naß, zumindest feucht, wird man auf jeden Fall; großen Spaß macht das auch nicht - aber wenn`s dann mal sein muß, dann geht`s auch. Wir können uns also ruhig an größere Strecken wagen.

Zurück im Camp werden die mehr oder weniger feuchten Jacken unter dem Überdach zum Trocknen aufgehängt; ein heißes Getränk und neue, warme Kleidung muntern unsere Stimmung weiter auf. Da stört uns auch nicht mehr die trübselige Aussicht über das breite Tal von Colle. Die Wolken liegen wie ein Deckel über der Landschaft. Nicht einmal der sonst von hier aus gut sichtbare Rücken des Monte Subasio ist derzeit zu erkennen.

Nur Franco muntert uns auf: in den nächsten Tagen - so soll es der Wetterbericht melden - soll es spürbar besser werden. (Na ja, schlechter geht`s wohl ja auch nicht mehr). Zu diesem Zeitpunkt erreicht uns eine SMS aus Deutschland: dort macht man sich angesichts der vielen Fernsehberichte über Erdrutsche und sonstigen Überschwemmungen in Italien schon Sorgen um uns. Na, so schlecht haben wir es hier dann aber doch wiederum nicht!

Aufziehendes Gewitter über Colle

Außerdem haben wir ja noch den Transit! Und der wiederum hat einen Cassettenrecorder. Als dann bei einbrechender Dunkelheit noch ein Gewitter heraufzieht, ziehen sich die Jufis in den Wagen zurück und genießen eine John-Sinclair-Cassette. "Das Leichenhemd der Lady Maduga" findet interessierte Zuhörer. Die Leiter sitzen unter dem Vorzelt und bewerfen den Transit in den passenden Momenten mit Tannenzapfen. So hat jeder was davon! Und da unsere Expeditionszelte immer noch trocken, warm und gemütlich sind, verschwindet man anschließend dementsprechend früh in den Zelten.


Montag, 2.10.2000, 4.Tag

Woran es nun genau liegt - wer weiß es schon? Hat unser Opfer für Gott Güpi gewirkt? Oder stimmte nur Francos Wetterprognose? Egal - wir sehen zum ersten Mal in Italien die Sonne - und das pur und in ausreichender Menge! Welch ein Unterschied beim Blick über das Tal von Colle! Die letzten Nebelfetzen im Tal lösen sich während des Frühstücks auf - wir stehen andächtig am Rand des Platzes, die dampfenden Kaffeebecher in der Hand und glauben fast unseren Augen nicht zu trauen!

Letztlich sind uns die Gründe für den positiven Wetterumschwung aber eigentlich wurscht - Hauptsache, der Dauerregen ist weg und wir können mit unserem Programm starten! Und das haben wir in der Hoffnung auf einen Wetterumschwung gestern Abend bereits auf der Leiterrunde festgelegt: heute soll eine erste Trekking-Tour hinauf zum Monte Penna führen. Das sind immerhin einige hundert Höhenmeter und auch die Laufstrecke ist nicht zu verachten. Geboten wird dafür - so schwärmen M&M - hervorragende Ausblicke einerseits über Umbrien; auf der anderen Seite aber weit hinein nach Marken und südlich bis zu den Monti Sibillini.

Schnell sind die erforderlichen Sachen im Day-Pack verpackt: Tagesverpflegung samt Getränken; kurze Sachen und Sonnencreme; zur Sicherheit komplettes Regenzeug. Die Leiter haben noch die Erste-Hilfe-Ausrüstung dabei; dazu natürlich Fotoapparat und Videoausrüstung für die Dokumentation. Unser erster Gang nach dem Frühstück führt aber zuerst nach Colle; jeder will sich im Alimentari mit Getränken und Süßigkeiten eindecken. Und wo wir schon mal da sind, legen wir gleich ein Bräunungs-Päuschen auf der Piazza ein. Zum ersten Mal in Italien können wir unseren eigenen Schatten sehen!!!!!

Inzwischen hat sich unsere Gruppe zahlenmäßig vergrößert: Leopoldo, Francos Hund, den wir noch von früher als jungen Welpen kennen, hat sich anscheinend entschlossen, an unserer Tagestour teilzunehmen. Als wir dann aber bergauf losziehen, verabschiedet er sich am Kreuz oberhalb von Colle.

Welch ein Unterschied zum gestrigen Laufen! Das wird uns bald schon klar. Haben wir gestern unter den Regenjacken geschwitzt, so bringt uns nun die Sonne recht schnell dazu. Schon am Kreuz ist die erste Pause fällig: Umziehen ist angesagt; wer bis jetzt noch eine lange Hose anhatte, tauscht sie hier gerne gegen Shorts. T-Shirts haben sowieso schon fast alle an.

Jetzt folgen wir zunächst dem gestrigen Weg. Es ist laut Karte ein Fahrweg, der sich mal auf der linken, mal auf der rechten Talseite den Berg hinaufschlängelt. Zwischendurch kreuzen wir ein Bachbett, durch das wir 1994 aufgestiegen sind (auch damals bei strömendem Regen). Dieser Bachlauf ist inzwischen aber derartig zugewachsen, daß wir schon nach wenigen Metern aufgeben. Dann doch lieber etwas weiter laufen; dafür mit angenehmer Steigung und mit besserer Sicht. Vor allem aber ohne störende Dornenranken um die Füße herum.

Erste Sonnenstrahlen in Italien-Piazza von Colle Francos Hund Poldo: ein treuer Begleiter

Schon bald wird eine erste Pause gewünscht; die Trinkflaschen werden aus den Rucksäcken herausgeholt und mit Vitamintabletten bestückt. Dieser Weg ist auch bereits mit einer roten Markierung versehen : "51" steht immer wieder mal an den Bäumen. Es kann sich dabei nur um einen Weg aus dem VUT-Programm ("Valle Umbra Trekking") der Gruppe aus Foligno handeln. Mit dem GEA-Weg, also "unserem" E1, haben diese Markierungen wohl nichts zu tun.

Man kann diesen Weg 51 aber gut bis zum Einstieg in den E1 oberhalb von Colle nutzen. Das sollten wir uns schon mal für unser Info-Heftchen merken. Für uns wird es jetzt zunehmend anstrengender! Meter um Meter zieht sich der Fahrweg jetzt bergauf. Hoch über uns kommt schon ein Almgebäude in Sicht - unser heutiges Zwischenziel! Als wir das den Jufis erläutern, werden sie etwas stiller...... Es sieht aber auch wirklich noch ganz schön hoch aus!

Aber Stück für Stück geht es weiter hinauf. "Trivio di Luticchio" heißt das erste Etappenziel. Es ist eine Kreuzung auf einem Sattel; immerhin schon auf 869m hoch gelegen. Als wir diesen Sattel mit seinen vielen Weggabelungen erreichen, ist die erste Notfallbehandlung durch unseren Lagerarzt Dr. Andree (3.Semester Medizin) notwendig. Sebastian ist der Unglückliche, der sich bereits auf diesen ersten Kilometern eine dicke Blase gelaufen hat. Ja,ja, soweit zu passendem Schuhwerk......

Während der Pause nähert sich uns ein neuer Gast: eine riesige Heuschrecke, schnell als Gottesanbeterin identifiziert, läßt sich auf Martins T-Shirt nieder und läßt sich anschließend nur mit Mühe wieder ins Gras zurücksetzen.

Und ein alter Bekannter taucht auf: rot-weiß-rot zum ersten Mal an den Bäumen; und das ist jetzt der berühmte E1-Weg. Gestartet ist er in Norwegen; enden wird er in Kalabrien (da haben wir ihn im letzten Jahr auf unserer Trekking-Tour gesehen und sind ihm ein Stück gefolgt). Unsere Jufis können jetzt erstmalig ihre Spürnasen einsetzen und Zeichen für Zeichen suchen; die Leiter folgen gemächlicher. An einer mit schöner Aussicht gelegenen Bank samt Tisch machen wir Mittagspause.

Das Kreuz von Colle: bester Ausgangspunkt für Wanderungen Vor dem Anstieg zum Trivio Zufällige Begegnung mit Joe, unserem Dorfpfarrer

Die mitgebrachten Lebensmittel werden ausgepackt und in mundgerechte Stücke geschnitten: Cervelatwurst, Käse und Brot stehen auf dem Speiseplan; anschließend noch einige Handvoll Erdnüsse. Das gibt auf jeden Fall genug Energie für den Weiterweg. Und der führt jetzt noch steiler als bisher bergauf! Das nächste Ziel ist jetzt schon der Viehstall, den wir schon von weit unten gesehen haben. Kaum zu glauben, welche Höhe wir schon erreicht haben! Die Rundumsicht ist aber auch wirklich prächtig!

Noch besser wird sie, als wir den Stall tatsächlich erreichen. Jetzt kann man nicht nur zurück nach Umbrien schauen, sondern über den Kamm hinweg tief hinein nach Marken. Und wie schreibt Helmut Dumler in seiner E1-Beschreibung, die wir so oft auf unseren bisherigen Touren studiert haben, so richtig:

"Links und rechts des Kammes fließen Landschaften, Täler und Bergketten wie in einem Strom. Berge wogen in Reihen. Der Wanderer auf dem Kamm, das dunkle Pünktchen in spürbarer Weite, fühlt sich in der goldenen Mitte - an der Naht zwischen Traum und Wirklichkeit."

Und jetzt stehen unsere Jufis auf diesem Kamm - und sie wollen noch weiter hinauf. Da der Weiterweg hinauf zu den Flanken des Monte Penna nicht zu verfehlen ist, lassen wir sie ziehen. Diejenigen von uns, die schon öfter hier waren, sitzen einfach im Gras, lassen sich von der wärmenden Sonne verwöhnen und genießen die atemberaubende Landschaft.

Und tatsächlich: die Monti Sibillini sind ganz weit im Süden recht klar zu erkennen - und mit ihnen der König der dortigen Berge: der Monte Vettore mit immerhin 2450 m. (wir befinden uns derzeit laut Höhenmesser auf 1150 m Höhe). Und dreimal haben wir schon einen Anlauf genommen, um ihn zu besteigen. Jedesmal mußten wir wegen Schlechtwetter abbrechen (was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: während der Hochzeitsreise von Marianne und Martin im kommenden Sommer werden wir mit allen 11 Teilnehmern endlich bei bestem Wetter auf den Gipfel gelangen)

Unsere Jufis sind jetzt ganz weit oben auf dem Gipfel angelangt - wirklich nur noch als "kleine, schwarze Pünktchen" zu erkennen. Nachdem sie zurück sind, geht es an den Heimweg. Am Trivio treffen wir zu unserer Überraschung auf "Joe", unseren Priester von gestern. Er zeigt uns seine Pilzausbeute und lädt ein, zwei Leute ein, ihn demnächst mal zu begleiten. Und da Flobö Interesse zeigt, merken wir ihn für dieses Spezialunternehmen schon mal vor.....

Picknick-Pause auf dem E1 Gemeinsames Kochen im Camp

In zwei Gruppen geht es vom Trivio nun weiter: Andree möchte nun endlich den verwachsenen Weg von 1994 finden; da andere bereits auf dem eigentlich geplanten Weg losgelaufen sind, folgt Martin dieser Gruppe. Andrees Mannschaft findet den Weg; die zweite Gruppe wird zielsicher von Florian durch aufgeweichte Olivenhaine zu einem kleinen Kirchlein in der Nähe von Boschetto geleitet. Von hier aus geht es am Hang entlang weiter nach Colle und zum Lagerplatz, wo die erste Gruppe bereits das warme Abendessen zubereitet.

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