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Reisetagebuch Kreta, Trekking-Tour
6.10.2001 – 19.10.2001
Warum Kreta?
Wandern auf Kreta – ein Plan, an dessen Verwirklichung wir fast schon
nicht mehr geglaubt hätten! Der Ursprung dürfte wohl im Frühjahr 1994
liegen; seinerzeit waren Marianne und Martin (damals noch in anderer
familiärer Konstellation) zum ersten Mal dort. Schon damals waren sie
mit dem Mietwagen u. a. an der gebirgigen Südküste rund um Hora Sfakion
unterwegs; der Besuch der Samaria-Schlucht scheiterte leider an der
stürmischen See.
Der zweite Besuch sollte dann in den Osterferien 1998 stattfinden –
das waren die letzten dreiwöchigen Frühlingsferien. Nach drei Jahren
über Ostern mit dem Fahrrad rund und quer durch Sardinien wollten wir
mal was anderes ausprobieren. Ein Buch über die europäischen Fernwanderwege
hatte uns schnell zu der möglichen Wanderroute geführt: der E4, entlang
der Südküste.
Die Flugpreise holten uns aber ebenso schnell auf den harten Boden der
Tatsachen zurück: 800,- DM nur für den Flug war uns dann doch zu viel
– zumal niemand voraussagen konnte, welches Wetter wir zu dieser Zeit
haben würden. Nach den `94er Erfahrungen könnte das durchaus sehr viel
an Regen bedeuten. Und das - in Verbindung mit den doch ziemlich anstrengenden
Wegbeschreibungen im Reiseführer – war uns dann zu riskant und zu teuer.
So flogen wir 1998 zwar auch; allerdings mit den Fahrrädern und ins
garantiert warme Sizilien.
Irgendwie aber haben wir die Idee mit einer Trekking-Tour auf Kreta
nie so ganz aus den Augen verloren. Das Problem waren in der Folgezeit
die zu kurzen Ferienzeiten und die anderen, ebenso dringenden Projekte:
im Herbst 1998 waren wir auf dem 100 Kilometer langen Solidaritätsmarsch
auf dem E1 in Umbrien unterwegs; im Frühjahr `99 folgte die Trekking-Tour
durch Kalabrien. Und so verflog die Zeit weiter wie im Fluge: Sommer
`99 Trekking und Radfahren in Norwegen; Herbst `99 das große Jungpfadfinderunternehmen
auf Sardinien bei Pinuccio. Auch 2000 bot zeitlich für Kreta keinen
Spielraum; im Frühjahr per Rad durch den Süden Sardiniens; Umbrien im
Sommer; im Herbst dann schon wieder mit den Jufis zu Fuß unterwegs bei
Franco in Umbrien. Erst 2001 sollte uns dem Ziel endlich näher bringen!
Nach der Ostertour per Bike durch Sardinien und der Hochzeitsreise mit
vielen alten Weggefährten im Sommer nach Umbrien kam am Ende des Sommers
der Beschluss: in den Herbstferien geht es auf nach Kreta!
Exakt gesagt wurde dieser Beschluss bei einem ersten Sonntagskaffee
noch im Bett sitzend gefasst! Und – wie vom Schicksal als Bekräftigung
geschickt – stand an diesem besagten Sonntag dann ein kleiner Artikel
im Homertkurier, in dem auf einen Diavortrag übers Wandern auf Kreta
in Fredeburg hingewiesen wurde.
Klar, dass wir diesen Vortrag drei Tage später besuchten! Innerhalb
dieser drei Tage hatten wir uns auf den im Laufe des letzten Jahres
gekauften Spezialwanderführer über Kreta bereits das Zielgebiet und
auch schon einen groben Wegeplan zurechtgelegt. Der Referent, ein Herr
Meyer, zielte mit seinem Diavortrag zwar auf ein anderes Publikum ab
(lediglich eintägige Wanderungen mit Hin- und Rückreise im klimatisierten
Bus; dazu Unterkunft in 5-Sterne Hotels usw.), bestätigte uns als erfahrener
Kenner Kretas aber hinsichtlich unserer Tourenplanung.
Der Rest war jetzt nur noch „Feinplanung“ – bis auf den erforderlichen
Flug! Als wir im Reisebüro Kersting nachfragten, waren die doch sehr
überrascht – weniger, dass wir auf Kreta wandern wollten und nur Flug,
aber kein Hotel brauchten – sondern von unserer doch recht naiven Vorstellung,
man könne so etwa 6 Wochen vor den Herbstferien noch Flugplätze in ein
garantiertes Sonnenferiengebiet bekommen!
Die bekamen wir dann glücklicherweise Dank Kersting doch noch: allerdings
nur über die Strecke von München nach Heraklion. Da aber die Bahnanreise
per ICE über Kassel im Flugpreis inklusive war, stellte das eigentlich
kein großes Problem dar. Die daraus resultierenden kleineren Probleme
lösten wir in den folgenden Wochen auch nach und nach: z.B., welchen
Zug sollten wir nach München nehmen? Das ging auf der Hinreise nur,
wenn uns jemand am Abflugtag mit dem PKW bis nach Kassel zum ICE bringen
würde. Friedhelm bot sich dafür an – inzwischen war auch ganz kurzfristig
der Teilnehmerkreis definitiv zusammengestellt worden: Marianne und
Martin sowie Florian Beste und Florian Böhmer (der Einfachheit halber
ab jetzt zur Unterscheidung als Flobe und Flobö aufgeführt). Alle anderen
Mitstreiter der bisherigen Touren mussten leider passen: Studium, beginnende
Ausbildung, kein Jahresurlaub mehr – einfach ausgedrückt mit Jans geflügeltem
Wort: halt einfach tot!
„Nur“ vier Leute – aber dadurch eine einfachere Planung als sonst, da
man sich schnell in allen Dingen einig war: Ausrüstung, Verpflegung,
Gepäckverteilung – vor allem aber die genaue Routenplanung! Jeder bekam
eine Zusammenstellung der möglichen Routen einschließlich Kartenmaterial
– und dann mussten nur die letzten Vorbereitungen getroffen werden.
Und das ging in den letzten Tagen vor dem Abflug doch noch teilweise
recht chaotisch zu. So stellten wir beim Zusammenstellen des Materials
und der anschließenden Aufteilung samt exakter Gewichtsmessung fest,
dass wieder einmal die Rucksäcke schwerer waren, als eigentlich vorgesehen.
Außerdem gab es bei einigen Probleme mit dem zur Verfügung stehenden
Stauraum im Rucksack. Sollten wir gnadenlos was zurücklassen? Fotoausrüstung?
Videocamera? Erste-Hilfe-Material?
Da der Löwenanteil des Gepäcks – sowohl gewichtsmäßig als auch vom Volumen
her – eindeutig beim Zeltmaterial lag, tauschten die beiden Florians
noch in letzter Minute das eigentlich vorgesehene Sierra Comfort gegen
das Rondane-Minizelt von Helsport aus. Immerhin drei Kilo an Gewicht
eingespart und etliches an Volumen. Dennoch – das Gewicht der fertiggepackten
Rucksäcke verleitete uns wahrlich nicht zu Freudenausbrüchen: so um
die 16 Kilogramm – aber noch ohne Trinkwasser (und andere wichtige Getränke)
und frische Verpflegung. Egal – mehr ließ sich beim besten Willen nicht
einsparen!
Die letzten Tage bis zum Ferienanfang vergingen so „wie im Fluge“ –
erstmals starteten wir auch nicht sofort nach Schulschluss, sondern
erst am frühen Samstagmorgen.
Aber jetzt viel Spaß beim Lesen! Uns beiden, Marianne und mir, hat es
mal wieder Spaß gemacht (wenn auch fast ein Jahr später), mit Hilfe
der Aufzeichnungen des Diktiergerätes, der Fotos und Wegbeschreibungen
dieses Reisetagebuch zu schreiben.
Samstag, 6.10., 1. Tag
Der Tag beginnt für uns sehr, sehr früh: unser ICE wird um 7:28 Uhr
in Kassel-Wilhelmshöhe starten; Ankunft München fahrplanmäßig um 10:59
Uhr. Unser Flug mit der Hapag Lloyd, Nr. HF 6889, wird um 14 Uhr starten
und um 17:40 Ortszeit in Heraklion eintreffen.
Das heißt für uns, so gegen 5:10 Uhr ab Wenholthausen losfahren. Friedhelm
fährt mit dem Passat bei uns und Flobö vorbei; die Rucksäcke sind schnell
eingeladen; und schon bald sind wir auf der Autobahn in Richtung Werler
Kreuz unterwegs. Auch die Weiterfahrt bis Kassel verläuft sehr zügig;
kaum Verkehr; kaum Baustellen.
Ein erstes Rätsel gilt es auf der Fahrt bereits zu lösen: worum handelt
es sich bei dem hellen Licht, dass vor uns am Himmel steht. Die Meinungen
reichen von Landescheinwerfern eines Flugzeugs über die Internationale
Raumstation bis hin zur eigentlich naheliegendsten Lösung: ein Stern.
Wir bekommen es nicht heraus; ist aber ja eigentlich auch egal.
In Kassel-Wilhelmshöhe dann kurze Irritationen bei der Wegfindung; dann
lässt uns Friedhelm an einer Seitenstraße hinter dem Bahnhof raus. Kurze
Verabschiedung – dann sind wir „echt“ unterwegs und auf uns allein gestellt.
Jetzt ist erst einmal Frühstück angesagt! In der bereits geöffneten
Bahnhofsbäckerei versorgt sich jeder nach Lust und Laune mit belegten
Brötchen oder Teilchen.
Da bis zur Abfahrt noch einige Zeit ist, steuern wir den Warteraum an
und beginnen dort mit dem Frühstück; dazu gibt es eine erste Dose Bier.
Noch ist das Gepäck durch die vielen zusätzlichen Getränke und die Reiseverpflegung
sehr schwer; das wird sich aber im Laufe der nächsten Stunden sicher
noch ändern!
Zehn Minuten vor der Zugabfahrt schultern wir dann ächzend unsere Rucksäcke
und laufen die schräge Rampe hinunter zum Bahnsteig. Der passende Wagenstandort
ist schnell gefunden; Flobö macht die Videocamera fertig (er ist auf
dieser Fahrt zum Kameramann befördert worden) und Martin schießt das
erste, obligatorische Bild beim Zugeinlauf. Am Himmel deutet sich schon
deutlich die Morgendämmerung ab, als wir es uns auf unseren reservierten
Plätzen für die nächsten Stunden gemütlich machen.
Im Zug kommen wir dann mit anderen Leuten ins Gespräch, die Kreta gut
kennen und uns ersten Sprachunterricht erteilen sowie nützliche Informationen
für die Weiterfahrt geben. Denn vieles ist hinsichtlich unserer Fahrt
bis ins ausgesuchte Zielgebiet an der Südküste noch völlig ungewiss:
wird ein Linienbus fahren? Wo gibt es die passenden Fahrkarten? Wo fahren
die Busse überhaupt ab – vom Flughafen oder von einem der vielen Busbahnhöfe
mitten in Heraklion? Fragen über Fragen, die wir aber erst vor Ort klären
können werden.
Pünktlich läuft der Zug in München Hbf ein; Zeit für einen Bummel durch
die Einkaufsstrecke unterhalb des Bahnhofs bleibt nicht; wohl aber eine
Leberkäsesemmel unterwegs. Schon stehen wir auf dem S-Bahnsteig tief
unter der Erde. Aber – welche Linie ist jetzt richtig? Und in welche
Richtung? Das Verkehrsnetz rund um München ist doch recht verwirrend.
Dann haben wir aber doch den richtigen Zug gefunden und sind unterwegs
zum Flughafen. Noch liegen wir gut im Zeitplan! Wir sind darüber informiert
worden, dass wir wegen der erhöhten Sicherheitskontrollen schon zwei
Stunden vor Abflug am Schalter einchecken sollen – für die Fahrt zum
Flughafen bleibt uns also eine Stunde Zeit. Und das langt auch; schon
kurz vor zwölf stehen wir in der Abfertigungshalle. Unser Schalter ist
schnell gefunden; von dort schickt man uns aber zu einem Spezialschalter
für Sondergepäck. Hier demontieren wir vor der Abgabe unserer Rucksäcke
die Außentaschen; verzurren den Bauchgurt außen herum und spannen auch
noch die Tragegurte fest. Die Außentaschen sind gleichzeitig (in einem
Leinenbeutel gemeinsam verpackt) das Bordgepäck. Klar, dass wir dabei
die Ausweise und Tickets nicht vergessen. Schnell noch die Anhänger
an den Rucksäcken befestigt, und schon sind sie unterwegs.
Penibel haben wir auch darauf geachtet, dass kein Taschenmesser, keine
Nagelschere oder dergleichen in unserem Bordgepäck ist – die Videocamera
haben wir allerdings dabei! Was jetzt - wir sind noch zu früh! Also
noch ein kurzes Päuschen auf einer unbequemen Bank, dann machen wir
uns auf einen langen Weg über Rollbänder und Gänge zu unserem Schalter.
Unterwegs müssen wir noch einen Umweg einlegen, da die Polizei ein Gebiet
weiträumig abgesperrt hat.
Das Einschecken geht recht langsam; jeder wird genau durchleuchtet;
das Handgepäck ebenfalls. Flobö muss die Videocamera einschalten, damit
sich der Kontrolleur von ihrer echten Funktion überzeugen kann. In der
Halle dann erneut eine längere Wartezeit: Flobö findet einen Duty-Free-Shop,
in dem es Biernachschub günstig zu kaufen gibt.
Dann endlich unser Aufruf; wir drängen zum richtigen Gate, nehmen die
Bordkarten in Empfang und landen kurz darauf draußen in einem Bus. Der
setzt sich auch bald in Bewegung und Florian schießt seine erste Aufnahme
von unserem Airbus A 300.
Als wir den betreten, staunen wir doch über die großen Innenmaße! Statt
der üblichen 2+3er Sitze hat dieser Airbus im Mittelteil 3 x 3er! Wir
haben unsere Plätze, wie könnte es auch anders sein, ganz hinten in
der letzten Reihe; dazu noch im Mittelbereich. Mit Sicht nach draußen
wird es also wohl nichts auf diesem Hinflug. Unsere Sitzposition hat
aber auch einen Vorteil: die beiden hinteren Toiletten sind für uns
schnellstens erreichbar!
Es folgt die übliche Prozedur vor dem Start, mit Ausnahme der Tatsache,
dass die Sicherheitshinweise über Video an uns weitergegeben werden
statt wie sonst gewohnt durch freundliche Stewardessen. Dann rollt unser
Vogel zum Beginn der Startbahn; die Düsen heulen auf, und schon werden
wir in die Sitze zurückgepresst, als die Maschine losjagt. Ein mulmiger
Moment im Magen; schon sind wir in der Luft.
Was folgt, ist ein langweiliger Routineflug, der lediglich durch das
Essen (Martin freut sich besonders über das „Hühnchen provencale“) und
die Getränkeverteilung aufgelockert wird. Die beiden Florians lassen
sich die Getränke sicherheitshalber beidseitig servieren....
Zum Glück senken sich kurz nach dem Start die Videobildschirme von der
Decke herab – wir können wegen der fehlenden Kopfhörer zwar nicht den
Ton der einzelnen Filme verstehen; dafür gibt uns die zwischenzeitlich
eingeblendete Karte jede Menge an Informationen über unseren derzeitigen
Standort; die Flughöhe, Außentemperatur, Geschwindigkeit usw.
Bald schon blinken die Leuchtanzeigen: „Bitte die Gurte anschnallen“
und der Sinkflug beginnt. In den letzten Sekunden der Landephase sehen
wir durch die Kabinenfenster draußen das Meer und einige Berge vorbeiflitzen;
dann ein harter Ruck und das starke Abbremsen – wir sind auf Kreta gelandet;
genauer in Heraklion.
Es folgt die übliche Prozedur des Aus-Checkens samt Wartezeit am Gepäckband.
Hier in Heraklion ist natürlich alles wesentlich kleiner als vorhin
in München – Marianne und Martin erkennen das alles aber von 1994 wieder.
Draußen dann ein mittlerer Hitzeschock! Kreta im Herbst ist doch etwas
wärmer als das Sauerland!
Über unsere diversen Reisebekanntschaften wissen wir, wohin wir uns
wenden müssen – aber halt – zuerst einmal das Wichtigste erledigen:
wir brauchen Knete; genauer gesagt: Griechische Drachmen. Ein Bancomat
ist in der Ankunftshalle schnell gefunden; bei der Bedienung gibt es
aber erst mal einige Irritationen, bis wir die richtigen Tasten finden.
Natürlich wissen wir den Kurs nicht – also machen wir das Naheliegendste
und wählen den höchsten Geldbetrag. Und das sicherheitshalber gleich
mit zwei Karten.
Flobö hat sich zwischenzeitlich beim Mietwagenschalter umgehört: er
weiß, dass wir nicht – wie sonst eigentlich üblich – etwa 500,- DM abgehoben
haben, sondern gleich mehr als 800,- DM! Gut, flüssig wären wir nun
also ausreichend! Wir schultern die Rucksäcke und treten hinaus in die
Abendsonne. Gewiss, Heraklion ist kleiner als München – der Busbahnhof
und die vielen Taxen ringsum lassen aber immer noch auf die zentrale
Bedeutung dieses Hauptflughafens schließen. Wir stehen also zuerst einmal
etwas unschlüssig herum, bis wir von einem Taxifahrer auf englisch angesprochen
werden. Wir nutzen diese Gunst der Stunde und erkundigen uns bei ihm
dreist nach der nächsten Busverbindung zur Südküste.
Es ist leider so, wie wir schon vermutet hatten: da die kretischen Buslinien
jeweils von einigen Orten zentral ausgehen, müssten wir erst einmal
über Heraklion (Stadt) bis nach Vrisses (auf der Route nach Chania).
Von dort geht dann eine andere Linie hinüber übers Gebirge nach Hora
Sfakion. So weit, so gut! Nur – heute, am Samstagabend ist da nichts
mehr zu machen! Also tritt sofort unser Plan B in Kraft!
Vorsichtig erkundigen wir uns, was denn vielleicht eine Taxifahrt bis
dorthin kosten würde. Laut Reiseführer soll man mit vier Personen ganz
gut auch mit den Taxipreisen klarkommen. Und wirklich: der genannte
Preis von 28.000 Drachmen scheint uns so preiswert, dass wir mehrmals
nachfragen, ob das wirklich der Preis für alle vier ist – der Fahrer
meint trocken, wir könnten ihm gerne auch die vierfache Summe zahlen....
. Erst später – als wir den genauen Umrechnungskurs kennen – wird uns
klar, dass der Preis umgerechnet bei ca. 150,- DM liegt. Na ja, da ist
es zu spät – denn schon Minuten später ist unser Gepäck in dem alten
Mercedes verstaut und wir sind auf der Schnellstraße an der Küste entlang.
Allerdings muss gesagt werden, dass wir mit dem Preis eigentlich auch
einverstanden sind – wo sollten wir jetzt auch bei der einbrechenden
Dämmerung eine Unterkunft finden? Und wer weiß, wie morgen am Sonntag
die Busverbindungen sind. Wir wollen ja auch möglichst schnell mit unseren
geplanten Wandertouren beginnen.
So fahren wir durch die langsam dunkler werdende Landschaft; vorbei
an Heraklion; immer westwärts an der Nordküste entlang. Rechts neben
uns immer wieder schöne Ausblicke hinaus auf`s Meer. Die Passagiere
im Fond haben nicht allzu viel von der Fahrt, da ihnen der doch sehr
forsche Fahrstil unseres Fahrers ein wenig zu schaffen macht. Die Straße
hat es aber auch in sich! Von wegen gerade Küstenstraße! Immer wieder
geht es steil hoch ins bis ans Meer heranreichende Gebirge, um einzelne
Kaps abzuschneiden. Dazwischen immer wieder scharfe Kurven. Die Bedeutung
der vielen kleinen Kirchlein entlang der Straße (etwa in der Größe eines
Vogelhäuschens) haben wir schnell durchschaut: das sind Gedenkstätten
für tödlich verunglückte Fahrer entlang der Route; ähnlich wie bei uns
an den Straßen manchmal Holzkreuze. Unser Fahrer bestätigt uns das.
Auch sonst kommen wir auf englisch mit ihm ganz gut klar. So bekommen
wir ganz nebenbei alle möglichen Dinge erklärt; und gleichzeitig einen
Einblick in das Leben eines ganz normalen Kreters. Wir wiederum schildern
ihm unsere weiteren Pläne für die nächsten zwei Wochen. Unser Fahrer
ist beeindruckt!
Zaghaft fragen wir an, ob wir vielleicht unterwegs irgendwo Gaskartuschen
kaufen könnten? Kein Problem; im nächsten Ort fährt uns der Taxifahrer
an eine Art „Alimentari“; hier praktischerweise als Minimarket, Market
oder Supermarket bezeichnet. Leider werden wir nicht fündig – Krimskrams
ohne Ende; nur halt keine Gaskartuschen. Also wechseln wir die Straßenseite
hinüber zur Konkurrenz – und siehe da: schöne, kleine Gaskartuschen,
passend für unser System! Wir gönnen uns gleich drei davon, denn wer
weiß, wann wir wieder so einen Laden finden. Dazu erwerben wir griechisches
Brot; schön hart, da es ja schließlich länger halten soll (das stellt
sich später als Fehlkauf heraus) und ausreichend Getränke: jede Menge
Wasserflaschen; dazu einige Bierdöschen. Wein brauchen wir nicht – unsere
Isoflaschen haben wir aus Deutschland mit diesem edlen Saft gefüllt
mitgebracht. Francos Rotwein aus Umbrien – jetzt hier auf Kreta!
Weiter geht unsere Fahrt; inzwischen ist es so dunkel geworden, dass
man von der Gegend eigentlich nichts mehr erkennen kann. Nur Martin
erinnert sich immer wieder an Kreuzungen, besondere Bauwerke usw., die
ihm von der 94er-Tour wieder einfallen. Damals waren M&M auf dieser
Straße mit dem Mietwagen unterwegs.
Beständig geht es nun hinauf auf der einzig großen Verbindungsstraße
von Vrisses quer hinüber zur Südküste nach Hora Sfakion. Wir staunen
über ein großes beleuchtetes Hotel in einem kleinen Dorf mit vielen
Verschnörkelungen – bis uns der Fahrer erklärt, dass es sich dabei nicht
um ein Hotel sondern eine alte, berühmte Kirche handelt. Und dann taucht
ein Schild mit einem Ortsnamen auf, der unsere Herzen höher schlagen
lässt: „Imbros“! Dieser Name ist uns aus beiden Wanderführern geläufig:
hier beginnt eine unserer vorgesehenen Wandertouren, durch die „Imbros-Gorge“,
also die Imbros-Schlucht.
Als wir unseren Fahrer daraufhin ansprechen, schlägt er uns vor, dass
wir hier einen Nachtplatz zum Freicampen suchen sollten – unten in Hora
Sfakion wäre das wohl nicht so einfach möglich. Ja, warum eigentlich
nicht! Dann könnten wir morgen ja gleich die Schlucht hinabwandern!
Wir fahren ein Stück aus Imbros raus; finden aber nichts Flaches zum
Zelten und wenden mitten auf der schmalen Bergstraße. Mitten im Zentrum
stoppt der Mercedes: der Fahrer weist nach links zum Friedhof samt Dorfkirche.
Dort befinden sich einige winzige „Terrassen“ mit einem Hauch von braunem
Gras – dort sollten wir uns ruhig niederlassen. Skeptisch schauen wir
uns das an, nachdem wir das Gepäck ausgeladen haben und allein auf der
Straße stehen. Da würden wir ja mitten auf dem Präsentierteller liegen;
dazu noch schön beleuchtet von einigen Straßenlaternen.
Nichts für uns, beschließen wir. Wir lassen das Gepäck erst einmal an
einem Haus liegen und erkunden ein wenig die Gegend. Wir befinden uns
quasi noch am Ortsausgang; das Gelände fällt von dort allmählich in
die Schlucht ab; unterhalb der Straße; geschützt durch Dornenbüsche,
wäre aber ein ebenes Fleckchen.
Lange wird über diesen Platz nicht diskutiert; inzwischen sind wir alle
redlich müde und sehnen uns nach dem warmen Schlafsack. Die nächsten
Bauernhäuser liegen doch recht weit weg (glauben wir); also tragen wir
die Rucksäcke hinunter auf die weite Grasfläche. Grasfläche? Das war
wohl eine Fehleinschätzung von oben: entweder sind überall mehr oder
weniger große (und spitze!) Steine oder Feldfurchen. Richtig lästig
sind allerdings die stacheligen Disteln!
Im Interesse unserer Therm-A-Rest-Matten säubern wir also sorgfältig
das Gelände nach dem Motto: „Wie man sich bettet, so liegt man!“ Wir
verzichten aus naheliegenden Gründen auf den Aufbau der Zelte: wir wollen
nicht unnötige Aufmerksamkeit wecken! Die Bodenplanen kommen aber als
Schutz drunter. Die Benutzung unserer neuen Stirnlampen stellen wir
allerdings sehr schnell wieder ein: zu deutlich macht das helle blauweiße
Halogenlicht unsere Anwesenheit sichtbar! Nun gut – dann müssen alle
Nachtvorbereitungen halt eben im Dunklen ablaufen. Viel ist ja auch
nicht zu erledigen: Isomatten, Schlafsäcke und Schlafzeug werden aus
den Rucksäcken gekramt; das Gepäck wird am Kopf aufgestapelt – jetzt
nur noch die Matten ein wenig nachblasen – fertig! Wir schlüpfen aus
der verschwitzten Tageskleidung und genießen das frische Nachtzeug.
Noch ein kleiner Schlummertrunk, dann betrachten wir den funkelnden
Sternenhimmel über uns und wollen langsam in den Schlaf hinüberdämmern.
Doch leider stören uns dabei zwei Dinge: einmal ist inzwischen der Mond
hinter den Bergen aufgegangen und taucht nun unsere „Wiese“ unangenehm
hell in sein silbriges Licht. Mist – wir sind von allen Seiten wunderbar
zu sehen! Gut, wenn wir uns ruhig verhalten, werden wir wohl kaum Ärger
bekommen. Dies sehen die vielen Hunde der Nachbarschaft nun scheinbar
aber anders! Nach und nach beginnen überall Köter nervend zu bellen;
von unten her nähert sich einer sogar; wagt sich dann aber schließlich
doch nicht weiter an uns heran.
Irgendwann geben aber auch die Köter auf und wir können in den wohlverdienten
Schlaf sinken. Den ersten Tag haben wir geschafft; alle Widrigkeiten
überwunden und nun mitten im Zielgebiet. Wir sind gespannt, was morgen
auf uns zukommen wird.
Sonntag, 7.10., 2. Tag
Nach einer tollen, sternklaren Nacht sind wir schon früh auf; zum Glück
wird es erst so gegen sieben Uhr hell – dann allerdings auch sehr schnell.
Schon kündigt sich der Sonnenaufgang über den Gebirgsketten an. Jetzt
haben wir erstmalig einen richtigen Blick auf die Landschaft um uns
herum – und die ist wirklich grandios! Berge rings um uns herum, so
weit das Auge reicht! Wahrlich ein schönes Gebiet für unsere Trekking-Touren.
Um halb zehn machen wir die erste Eintragung in unser elektronisches
Reisetagebuch. Auf dieser Fahrt wollen wir – wie schon auf der Herbstfahrt
2000 in Umbrien – unsere Reisenotizen immer wieder zwischendurch mal
auf Band sprechen. Das verspricht mehr Aktualität und vor allem Vollständigkeit.
Wie oft haben wir uns früher immer vorgenommen, abends im Zelt die Tagebucheintragungen
in unser Schreibheftchen zu machen – und dann waren wir meist zu müde
und schoben das tagelang vor uns her. Dadurch gehen natürlich viele
Einzelheiten verloren. Und so hier der erste Originalton:
„Heute ist Sonntag, der 7. Oktober. Es ist jetzt 9:26 Uhr Ortszeit und
wir sind alle am Packen; schwer am Schwitzen, denn sobald die Sonne
aufging, wurde es sehr, sehr warm. Alle haben inzwischen kurze Hosen
an; manche auch schon die Unterhemden aus. Auf dem Foto sieht man, wie
gut der vom Taxifahrer versprochene „gute Platz“ wirklich ist. Wir hatten
eine trockene Nacht. Während wir jetzt packen, fahren oberhalb von uns
fast alle drei, vier Minuten „Zeus“ und „Olympus-Tours“ vorbei, die
ihre Touristen nach Hora Sfakion bringen. Ein Problem ist dabei, dass
es hier keine Toiletten weit und breit gibt – und da man hier wie auf
einem Präsentierteller liegt, ist das für einige von uns bereits ein
Problem – für die anderen wird es noch eins werden. Wenn wir gleich
gepackt haben, werden wir erst einmal nach Imbros hineingehen.“
Da das Rucksackpacken am ersten Tag noch etwas länger dauert, verzögert
sich unser Aufbruch noch einige Minuten. Bei dem strahlendblauen Himmel
packen wir das Regenzeug und die langen Sachen ziemlich weit nach unten.
Und dann auf nach Imbros in die Kneipen – oder genauer gesagt: ins „Kafenion“.
Andere Länder, andere Ausdrücke. Schon nach wenigen Metern oben auf
der Straße ein erstes Hinweisschild hinunter zur Schlucht. Im nächsten
Haus ist auch schon das erste Kafenion; der Kellner versucht uns zum
Besuch zu bewegen – wir aber wollen zumindest einmal durch den Ort gelaufen
sein (was allerdings doch schon bald recht mühsam ist – die Rucksäcke
mit den zusätzlichen Wasservorräten lasten doch recht schwer auf den
Schultern).
Doch ehe wir uns versehen, sind wir auch schon wieder auf der anderen
Seite von Imbros angelangt! Groß ist das Dorf ja anscheinend nicht!
Dafür stehen drei, vier Busse am Straßenrand der einzigen Dorfstraße
entlang geparkt. Und dummerweise steht auf jedem Busschild „Imbros-Schlucht“.
Damit ist klar: alle haben hier das gleiche Ziel! Wir hatten uns diese
Schlucht eigentlich etwas weniger bevölkert vorgestellt. Wir trösten
uns mit dem Gedanken daran, dass heute ja Sonntag ist und werktags die
Gegend sicher leerer sein wird.
Unser Weg führt uns nun zielstrebig in ein nach außen zur Straße hin
geöffnetes Kafenion; wir lassen uns draußen an einem schattigen Tisch
nieder und bestellen Kaffee. Und wo ein Kafenion ist, muss es ja wohl
auch eine Toilette geben. Die sind auch da; liegen einmal ums Haus herum
unten im Keller und sind sauber. Damit wären wir diese Sorgen schon
mal los. Wir müssen uns nun nur noch an die Landessitte gewöhnen, das
benutzte Klopapier nicht in die Toilette zu werfen, sondern in den dafür
vorgesehen Eimer. Das ist für uns zunächst gewöhnungsbedürftig; der
Sinn ist aber klar: dadurch wird das Grundwasser nicht belastet.
Oben haben wir am Nachbarstisch inzwischen Damengesellschaft bekommen:
eine alleinreisende Frau ist mit ihrem Fahrrad und Ortliebtaschen aufgetaucht
und genießt ebenfalls die sonntägliche Ruhe vor dem Lokal. Sie reagiert
auf unseren Gruß aber nur knapp und will wohl nicht in ein Gespräch
verwickelt werden.
Nach dem Kaffee wird es dann aber auch Zeit; es ist schon gegen elf
und laut Reiseführer liegen nun bis zum Schluchtende 8 Kilometer vor
uns. Kursive Texte stammen ab jetzt aus diesen Reiseführern: Was Helmut
Dumler mit seiner legendären E1-Beschreibung für Umbrien ist, heißt
hier auf Kreta „Wanderungen auf Kreta“ von Bernhard Irlinger (Steiger
Verlag, ISBN 3-89652-030-X) bzw. für uns noch wichtiger „Kreta“ von
Gerd Hirner und Jakob Murböck aus dem gleichen Verlag wie der Führer
von Helmut Dumler (Verlag Bruckmann, ISBN 3-7654-3323-3). Beides wirklich
gute Reiseführer, wie wir in den nächsten Tagen feststellen können.
Um Gewicht zu sparen, haben wir nur die zuvor ausgewählten Wegbeschreibungen
kopiert und die passenden Karten dazu vergrößert. Und diese erste Schlucht-Beschreibung
studieren wir nun intensiv vor dem Aufbruch:
„Auf alten Wegen durch die Imbros-Schlucht. Tourencharakter: Unschwierige
Wanderung auf dem Schluchtgrund. Reine Gehzeit: 2 ½ Stunden. Markierung:
E4. Höhenunterschied: 580 m. Am südlichen Ortsausgang von Imbros in
die nach Süden verlaufende Einsenkung, in deren Richtung auch eine Telegrafenleitung
gezogen ist. Der Weg ist nicht zu verfehlen. Schon bald verengen sich
die Talhänge zu einer Schlucht. Nach ca. einer Stunde ist die engste
Stelle der Schlucht erreicht.“
Mit diesen Informationen machen wir uns gutgelaunt auf den Weg. Der
zieht sich auch, wie beschrieben, deutlich erkennbar in die Talsenke
hinein. Noch können wir nebeneinander gehen; das wird sich in der Schlucht
aber wohl ändern! Und weil man außer den Gesprächen ja auch noch was
von der Landschaft sehen will, schweifen die Blicke links und rechts
über die Gebirgsflanken. Ganz rechts oben verläuft die Straße von Imbros
nach Hora Sfakion; hier sehen wir immer wieder die Touristenbusse runterfahren.
Und dabei passiert nun auch schon das erste größere Malheur! Plötzlich
stolpert Flobe über eine an und für sich völlig ungefährliche Bodenwelle,
flucht und hält sich den Knöchel! In den ersten Minuten fürchten wir,
dass dies schon das Ende unserer Wanderungen auf Kreta sein könnte.
Dann geht es aber wieder und Florian humpelt langsam weiter. Wir wollen
nur noch einige Meter weiter: dort steht ein kleines Steinhäuschen,
und dort wollen wir auf den Schreck erst einmal Pause machen.
Aber was ist schon der Schreck mit dem Fuß gegen das, was uns nun erwartet!
Da stehen doch zwei Leute vor der Hütte und beobachten unser Näherkommen.
Das wird doch nicht etwa??? Doch, es ist eine Kasse!!! Da nehmen die
Leute hier noch Geld, damit man stundenlang durch eine heiße Schlucht
wandern darf! Davon stand nun allerdings nichts im Reiseführer!
Wir rasten direkt neben dem Haus und beobachten die vielen anderen Wanderer,
die nach und nach an uns vorbeikommen. Allerdings mehr von oben als
von unten aus der Schlucht heraus. Na ja, wer will schon die vielen
Höhenmeter bergauf laufen, wenn es auch bergab geht? Wir sind jetzt
froh, dem Rat unseres Taxifahrers gefolgt zu sein.
Dann lösen wir unsere „Tickets“ und kaufen noch gleich passende Postkarten
und ein Buch dazu. Uns ist natürlich auch klar, dass die Einheimischen
hier auf diese Einnahmen aus dem Tourismus angewiesen sind. Und da Florian
wieder mit seinem Fuß o.k. ist, können wir jetzt so richtig loslegen.
Schon bald wird uns allerdings klar, dass wir ab jetzt sehr gut aufpassen
müssen, wohin wir bei jedem Schritt unsere Füße setzen. Die Trekkingstöcke
kommen zum Einsatz. Teilweise ist der Schluchtboden mit losem Geröll
übersät, was ein zügiges Fortkommen arg behindert.
Zwischendurch versuchen wir, die grandiose Schluchtlandschaft auf Video
und Foto zu bannen; durch die starken Lichtunterschiede und die hohen,
engen Felswände haben wir damit aber so unsere Probleme. Aber besser
als gar keine Fotos! Die Schlucht wird so eng, dass man beide Wände
mit ausgestreckten Armen berühren kann. Immer wieder treffen wir auf
andere Wandergrüppchen und kommen teilweise auch mit ihnen ins Gespräch.
Wir sind allerdings die einzigen, die mit voller Ausrüstung unterwegs
sind. Bei manch anderen kann man wahrlich nicht von „Ausrüstung“ sprechen:
T-Shirts, kurze Hosen und leichte Sandalen oder Turnschuhe; teilweise
auch ohne Getränkeflasche.
Mit einer schweizer Wandergruppe tauschen wir Routenpläne aus; die sind
schon länger in dieser Gegend unterwegs und kennen teilweise die von
uns ausgesuchten Strecken. Sie sind gebührend von unseren Plänen beeindruckt,
diese ganzen Schluchten mit Rucksack und Zelt zu durchstreifen. Sie
selbst sind in einem Hotel in Loutro untergekommen. Hört sich auch nicht
schlecht an! Und kurz darauf nähern wir uns auch schon einem weiteren
Höhepunkt:
„Nach etwas mehr als einer Stunde öffnet sich das Tal und wir erreichen
wir eine Zisterne. Leider ist das Wasser nicht trinkbar. Hier verkauft
ein alter Hirte kühle Getränke. Überdachte Sitzgelegenheiten verführen
zu einer längeren Rast.“
Nun ja, dann können wir ja auf das Wasser verzichten! Gegen halb zwei
erreichen wir die beschriebene Stelle und siehe da: der „alte Hirte“
ist auch schon da! Und die kühlen Getränke auch! Wir checken schnell
die Preise ab und erblassen doch ziemlich! Bier und Cola sind nicht
ganz billig – aber wir können uns ja auch an die Landesgetränke halten:
Wein aus der Gegend und Raki, so eine Art Schnaps.
Den Wein gibt es aus kleinen Plastikbechern; durchaus erschwinglich
– und sehr stark und völlig fremd im Geschmack. Er schmeckt fast wie
ein Likörwein, wie Sherry ungefähr.
Und da die Hirten (es sind mehrere) etwas englisch können, können wir
uns auch einigermaßen verständlich machen. Als sie von unseren Plänen
hören, wird gleich nochmals auf Kosten des Hauses nachgeschenkt. Natürlich
lassen wir uns daraufhin nicht lumpen und bessern den Umsatz auf. Danach
kommt Dynamik in die Geschichte: für Marianne sucht der ältere Hirte
einen schönen Kristallstein aus seinem Vorrat aus und ritzt ihren Namen
hinein. Stolz präsentieren sie uns auch verschiedenen Fotos von früheren
Gästen. Da wollen wir nicht abseits stehen, machen ebenfalls ein gemeinsames
Gruppenfoto und lassen uns ihre Adresse geben mit dem Versprechen, dieses
Foto aus Deutschland zuzuschicken (und das erledigen wir dann tatsächlich
noch zum Weihnachtsfest 2001!). Und damit wir als Pfadfinder in Erinnerung
bleiben, schenken wir ihnen unseren Pfadfinder-Rucksackwimpel. Der wird
auch sofort unter dem Hüttendach mit Draht dauerhaft befestigt. Tja,
und dann wird es ernst: der Schnaps kommt auf den Tisch! Dazu gibt es
einen Grundkurs in griechisch: „jamas“ heißt Prost; „ne“ ja und „ochi“
nein. Der Raki wird aber nicht so einfach aus den Plastikbechern getrunken,
sondern aus leeren Patronenhülsen! Kaliber 44 Magnum, meint der Hirte.
Dann ist es aber auch schon Zeit für den Abschied; M&M zockeln schon
mal langsam vor; die beiden Florians bleiben noch etwas sitzen.....
Flobes Fuß hat wohl auf diese Medizin gewartet; nach dieser Pause ist
er wieder völlig fit; dafür hat seine Hose aber ein wenig gelitten und
löst sich langsam aber sicher zwischen den Beinen auf. Er prägte auch
den Spruch des Tages, als er plötzlich aufsprang, herumtanzte und dabei
schrie: „Ha, Scheiße, so dumm kann auch ich nur sein!“ Der Grund für
diese Selbsteinsicht ist leider im Nebel der Geschichte verschwunden.
Etwas später trifft die Gruppe wieder aufeinander; inzwischen haben
wir ein Gelände erreicht, dass sehr geschichtsträchtig ist:
„1867 hat sich hier ein Drama im Widerstand gegen die Türken ereignet.
Nach einem Aufstand der Kreter waren Frauen und Kinder hierher geflohen
und hatten sich in einer Höhle versteckt. Die türkischen Truppen haben
sie jedoch aufgespürt und allesamt getötet.“
Schon aus dem Bücherstudium der Monate zuvor haben wir eine Menge über
die Zeit der türkischen Besatzung einschließlich des erbitterten Widerstandes
der Kreter und der grausamen Strafaktionen der Türken gehört. Na, und
wir Deutsche haben diese Tradition ja im letzten Krieg wieder aufleben
lassen. Auch davon werden wir in den nächsten zwei Wochen noch einiges
erfahren.
Inzwischen laufen wir immer wieder über Stücke des alten, gepflasterten
Weges. Wie es schon in den Reiseführern heißt: „Es ist eine Wohltat
für die Füße, mal wieder über so etwas zu laufen!“ Beim Vergleich beider
Reiseführer ist uns übrigens aufgefallen, dass sie teilweise wortwörtlich
übereinstimmen – und zwar nicht nur in der sachlichen Wegbeschreibung,
was ja noch normal wäre, sondern gerade in solchen Randbemerkungen mit
der „Wohltat für die Füße“. Hat da vielleicht jemand vom anderen abgekupfert?
Na, uns kann es egal sein – Hauptsache ist, dass wir den Weg finden
(und das wird in den nächsten Tagen trotz doppelter Beschreibung noch
gelegentlich ein Problem werden)!
Ein weiteres Highlight des heutigen Tages steht uns nun bevor: wir nähern
uns dem großen, natürlichen (?) Felsentor, dessen Bild in beiden Reisebeschreibungen
zu finden ist. Der Text gibt an, dass es der Fluss im Laufe der Jahrtausende
in den Fels gesprengt hat. Imposant ist es auf jeden Fall – und natürlich
wieder einmal eine willkommene Raststelle! Denn eines haben wir inzwischen
gemerkt: die Pausen sind neben den landschaftlichen Eindrücken wohl
die schönsten Erlebnisse! Es ist einfach eine Wohltat, den schweren
Rucksack von den müden Schultern gleiten zu lassen und sich irgendwo
auf einem Felsen auszustrecken; gewärmt immer noch von der hoch über
uns stehenden Sonne. Klar, dass auch hier einige Fotoaufnahmen zur späteren
Dokumentation fällig sind.
Danach geht es durch das sich bereits merklich in Richtung Meer öffnende
Tal weiter; der Weg wird immer mehr eine Schotterpiste; großes Strauchwerk
überzieht den breiter werdenden Schluchtboden. Im Frühjahr wird der
Fluss bestimmt recht kräftig hier durchrauschen! Im Sommer führt die
Schlucht allerdings überhaupt kein Wasser. Kurz vor dem Schluchtausgang
liegt rechts eine einladende Taverne mit dem klangvollen Namen „Imbros
Gorge“. Die beiden Florians können nicht widerstehen und wollen ein
erstes griechisches Mahl zu sich nehmen; Marianne und Martin ziehen
schon mal langsam weiter. Treffpunkt soll der Schluchtausgang sein.
Dort haben sie Zeit für eine weitere Zusammenfassung der letzten Stunden
auf Band:
„Es ist jetzt 16 Uhr. Wir sind am Ausgang der Imbros-Schlucht angekommen.
Vor uns liegt das Mittelmeer. Marianne sagt, das sieht nicht so ganz
spektakulär aus; irgendwie etwas enttäuschend, wenn man so rausschaut.
Links von uns liegt Frangokastello im Sonnenlicht. Rechts kann man die
Straße weiterführen sehen, irgendwo in Richtung Hora Sfakion; das sind
noch etwa 5 Kilometer. Direkt oberhalb von uns auf der Straße liegt
Komitades; recht klein. Es besteht nur aus ein paar Häusern und einigen
Tavernen.“
Die Beiden lassen sich am Straßenrand nieder und genießen dennoch bei
einem letzten Becher umbrischen Rotwein den weiten Ausblick nach beiden
Seiten der Küste. Dabei wird ihnen auch bewusst, dass es noch ein recht
weiter Fußmarsch bis zum Etappenziel in Hora Sfakion sein wird. Um halb
sechs stoßen die beiden Florians wieder dazu – sie sind des Lobes voll
über die leckere griechische Küche, die sie inzwischen probiert haben.
Der Fortgang des heutigen Tages ist klar: hier kann man nirgends zelten;
außerdem fehlt noch Trinkwasser. Wir müssen also zuerst einmal nach
Komitades hinein und dort ausreichend Wasser fassen. Das allerdings
nicht an der ersten Bar; wir wollen lieber im Ortskern bei einem normalen
Haus nachfragen, ob man uns dort die Wasserflaschen füllen kann. Und
vielleicht finden wir dann auf dem weiteren Weg in Richtung Hora Sfakion
irgendwo noch ein schönes Lagerplätzchen für die heutige Nacht. Mehrere
Wohnmobile, die zwischenzeitlich an uns vorbeigekommen sind, sehen wir
hinter Komitades einen steilen Hang hinauffahren. Oh je, das wird noch
ein gutes Stück zu laufen sein!
Doch dann ist uns an diesem Tag erneut das Glück hold! Als wir gerade
nach einigen Metern ins „Zentrum“ von Komitades hineinwandern und nach
einem Minimarket Ausschau halten, nähert sich von hinten ein grün-weißer
Linienbus! Da gibt es kein Zögern mehr! Unsere winkenden Hände machen
dem Fahrer auch sofort unseren Mitfahrwunsch klar – und der Bus hält
tatsächlich für uns an! Und das macht er der Einfachheit halber mitten
auf der engen Dorfstraße. Das heißt natürlich für alle anderen Fahrzeuge:
warten! So schnell sind wir wohl noch nie in einen Bus geklettert. Der
ist zwar recht gut besetzt; dennoch bekommt jeder samt Rucksack einen
Sitzplatz. Und beim Schaffner müssen wir umgerechnet mal knapp zwei
Mark für die fünf Kilometer bis Hora Sfakion bezahlen. Klar, dass bei
uns darüber Übereinstimmung herrscht, dass dieses Geld richtig angelegt
ist!
Hinzu kommt, dass die nun an uns vorbeiziehenden Straßenkilometer sehr
öde zum Wandern gewesen wären – fast nur Felsen und Steine ringsum;
dazu ein wenig Gestrüpp. Zum Zelten sehen wir keine Gelegenheit. Aber
jetzt haben wir ja auch schon andere Pläne: übernachten wollen wir in
der Umgebung von Hora Sfakion. Dann können wir morgen gleich mit dem
Schiff nach Agia Roumeli weiterfahren.
Jetzt wird die Bebauung langsam dichter; wir fahren einen Abhang hinunter
und können von oben schon mal auf das kleine Hafenörtchen sehen. Unser
Linienbus hält leider schon weit oberhalb des Ortskerns; wir machen
uns mit den Rucksäcken zu Fuß an die letzte Strecke. Und wir sind auch
nicht die einzigen, die ab hier laufen müssen. Auf einem großen Parkplatz
drängeln sich Dutzende von Bussen mit tollen Aufschriften: „Samaria
– the easy way“ oder „Samaria – the long way“! Jetzt wissen wir, wohin
die ganzen Busse heute Morgen gefahren sind!
Wir gehen zwischen den (noch leeren) Bussen weiter hindurch und kommen
über eine lange Treppe hinunter in den „Ortskern“. Der besteht eigentlich
nur aus einer Wendeschleife auf der Straße. Links führt noch ein Weg
die lange Mole entlang; rechts geht es durch verschiedene Gassen in
das Häusergewirr hinein. Uns kommen vom Fähranleger ganze Heerscharen
von leichtbekleideten Touristen entgegen. Aha, daher blieben also alle
Busse oben stehen! Die Touris sehen allerdings doch arg mitgenommen
aus!
Unser Ziel ist nun aber geradewegs der Minimarket am Ende der Wendeschleife.
Junge, das erste kühle Bier des Tages geht einem nach dieser Tour doch
gut runter! „Mythos“ steht auf den Flaschen, an denen die Kondenstropfen
herunterlaufen, als wir es uns an einem kleinen Tischchen direkt vor
dem Geschäft gemütlich niederlassen. Diese kretische Biermarke wird
ab jetzt auch unsere „Hausmarke“. Andreas heißt der freundliche Inhaber
des Ladens, mit dem wir schnell in Kontakt kommen, da er uns auf englisch
nach dem woher und wohin fragt. Und dieser Andreas wird für die weitere
Tour zu einer der wichtigsten Informationsquellen für uns!
Da wir an diesem Abend noch nicht wissen, wie preiswert Zimmer hier
sein können, fragen wir Andreas, wo man denn hier gut wildcampen könne.
„No problem“ meint er; direkt oben auf der Burg; hoch über dem Hafen
gelegen. Diese Burg haben wir schon bei der Ankunft gesehen (eigentlich
mehr den Wald drum herum); allerdings auch das große Schild am Wegesrand
mit einem durchgestrichenen Zelt! Ach was, beruhigt uns Andreas ; das
wäre einfach zu ignorieren. Wir sollten nur kein Feuer machen. Na, das
haben wir bei der Trockenheit hier sowieso nicht vor.
Wir gönnen uns noch ein zweites Bier und kaufen dann noch einiges Dinge
für den Abend bei Andreas ein. Er gibt uns auch noch den Tip, in einer
der Seitenstraßen kretischen Schafskäse zu kaufen. Den essen wir dann
auch noch gleich bei Andreas am Tisch, ehe wir uns bei einsetzender
Dämmerung auf den steilen Weg hinauf zur Burg machen.
Was für ein Übernachtungsplatz! Eine eigene Burg für uns ganz allein!
Denn Leute sind hier oben keine mehr. Wir haben sogar mehrere „Zimmer“
zur Verfügung (nun gut, die Wände sind nur noch so zwischen 50 cm bis
2 Meter hoch; ein Dach fehlt komplett; dafür ist die Aussicht von hier
oben aber natürlich echt toll!). Die beiden Florians beschließen, heute
auf`s Zelt ganz zu verzichten und rollen ihre Isomatten und Schlafsäcke
auf einer Art Balkon aus; Marianne und Martin nehmen nur das Innenzelt
und bauen es im Wind- und Sichtschutz einer etwas höheren Mauer auf
– das machen wir allerdings erst, als es schon recht dunkel geworden
ist.
Die Dämmerungsphase schein hier recht zügig zu verlaufen; schon bald
ist es richtig dunkel. Und damit sind wir glücklicherweise allen neugierigen
Blicken entzogen. Von der Burg aus konnten wir vorher einen schönen
Sonnenuntergang an der Küste erleben; morgen werden wir dort schon zu
Fuß unterwegs sein.
Auf ein warmes Abendessen verzichten wir; der Käse hat uns schon reichlich
gesättigt. Dafür sitzen wir auf dem Burgmäuerchen und beobachten ein
einlaufendes, von Westen her kommendes Schiff. Unglaublich, welche Touristenmassen
dieses Schiff nach seiner Ankunft ausspuckt! Der Strom der Menschen
vom Schiff über den Kai hinauf zu den Bussen scheint schier kein Ende
zu nehmen! Danach sehen wir Bus um Bus die Straße hinaufklettern, über
die wir vor zwei Stunden selbst Hora Sfakion erreicht haben.
Später erreicht Flobö noch seinen Vater am Handy; von ihm erfahren wir,
dass es in Afghanistan inzwischen losgegangen ist. Das kann uns nun
aber nicht mehr stören – für die nächsten zwei Wochen sind wir jetzt
sowieso in der Einöde unterwegs. Dennoch sind wir Bush dankbar, dass
er so lange gewartet hat, bis wir mit dem Flieger Kreta erreicht hatten
(später hören wir, dass der Flughafen von Heraklion wohl für ein, zwei
Tage gesperrt gewesen ist). Bei uns geht es in der Nacht aber auch los:
vor Mücken scheint man wohl auch im Süden Kretas nicht verschont zu
sein. Vor allem die beiden Florians ohne Zelt wissen am nächsten Morgen
davon ein Liedchen zu singen! Ansonsten haben wir eine ruhige Nacht
auf einem wirklich außergewöhnlichen Platz!
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